Die "Festung Europa" ist eine politisch nützliche Selbsttäuschung

Wer nicht hineindarf, ist sattsam geklärt. Doch wer soll hineindürfen? Darauf gibt das österreichische Papier keine Antwort.
Wer nicht hineindarf, ist sattsam geklärt. Doch wer soll hineindürfen? Darauf gibt das österreichische Papier keine Antwort. (c) APA/GEORG HOCHMUTH
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Selbst wenn die EU ihre Grenzen perfekt schützt, braucht sie legale Wege zur Einwanderung - im Interesse aller. Doch die Politiker haben davor Angst.

Das Programm des österreichischen Ratsvorsitzes ist, einschließlich schöner Fotos vom Land und seinen Leuten, 72 Seiten lang. 35 Mal kommt darin das Wort „Migration“ vor, und zwar ausnahmslos im negativen Kontext der „Migrationskrise“, der „ungeregelten Migration“ und natürlich der „illegalen Migrationsrouten“, die es zu schließen gilt.

Ist das alles, was uns zur Einwanderung einfällt? Das Krisenjahr 2015 hat die öffentliche Befassung mit diesem Thema aus den Fugen geraten lassen. Seither geht es in der Debatte fast ausschließlich darum, wie Europa seine Außengrenzen gegen den nächsten Ansturm großer Massen von Fremden verstärken kann. Mit schamloser Nonchalance nehmen manche Politiker heute den Begriff „Festung Europa“ in den Mund, dass man sich fragen muss, ob sie nicht Victor Klemperers Werk „LTI“ über die Sprache der Nazis kennen. Denn darin beschrieb der als Jude verfolgte Linguist, wie die Goebbels'sche Propaganda diesen Begriff mit schwindendem Kriegsglück immer öfter einsetzte.

Sprachliche Gedankenlosigkeiten wie diese lenken vom Blick auf zwei Selbstverständlichkeiten ab. Denn erstens braucht die Europäische Union sichere Außengrenzen. Und zweitens bestimmt allein sie, bestimmen allein ihre Mitgliedstaaten, wer hineindarf und wer nicht. Der Sozialstaat europäischer Prägung fußt auf einem mühsam verhandelten Generationenvertrag, der Vertrauen und Einvernehmen voraussetzt. Offene Grenzen würden ihn dieser Grundlage berauben.

Wer nicht hineindarf, ist sattsam geklärt. Doch wer soll hineindürfen? Darauf gibt das österreichische Papier keine Antwort. Gar niemand? Das wäre unrealistisch. So sehr man nun auch in die Abdichtung der Außengrenzen der Union investiert, die Asylpolitik verschärft und das unschöne Fernhalten von Migranten aus Afrika gegen viel Geld an die Maghrebstaaten auszulagern hofft: Stets werden Menschen nach Europa einzuwandern versuchen.

Dafür sollte es legale, sichere Wege geben – im Interesse aller Beteiligten. Wenn man, wie der Bundeskanzler, der Vizekanzler und der Innenminister stets betonen, das Geschäftsmodell der mafiösen Schlepper im Mittelmeer zerschlagen will, muss man es jungen Afrikanern ermöglichen, gar nicht erst auf die illegalen, gefährlichen und teuren Dienste der Menschenschmuggler zurückgreifen zu müssen.


Gewiss: So ein reguläres EU-Migrationsprogramm wirft mehrere schwere Fragen auf. Man muss sie ohne naive „No borders“-Illusionen und reaktionären Nativismus beantworten. Soll es sich um dauerhafte Einwanderung handeln, oder um zeitlich befristete Aufenthalte als Gastarbeiter, Student oder Lehrling? Hier muss man klare Trennlinien ziehen – und von Anfang an die Spielregeln des Zusammenlebens im offenen, pluralistischen, säkularisierten Europa klarmachen.

Zu beantworten wäre auch, ob nur hoch qualifizierte Fachkräfte kommen können sollen, wie es derzeit Programme vom Zuschnitt der „Rot-Weiß-Rot-Karte“ vorsehen. Die kriminelle Ausbeutung illegal eingewanderter, gering gebildeter Afrikaner in der Landwirtschaft Süditaliens oder Andalusiens ließe sich durch regulierte Saisonarbeiterprogramme bekämpfen. Das hätte zwei zusätzliche positive Effekte: Erstens wären sie dann im Sozial- und Steuersystem erfasst. Und zweitens wäre es einfacher, sie zur Rückkehr zu bewegen. Denn die Furcht des papierlosen Fremden davor, bei der Heimreise erwischt zu werden, führt paradoxerweise dazu, dass er umso länger im Untergrund bleibt.

Und schließlich brauchte es eine Antwort darauf, wie man diese legale Zuwanderung so organisiert, dass sie nicht zum „Brain-Drain“ für Afrikas Gesellschaften wird. Denn wenn dieser junge Kontinent stets seine Besten an Europa verliert, werden seine Staaten sich nie stabilisieren können. Politische Stabilität ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass der Migrationsdruck aus dem Süden nicht noch mehr steigt – und eines Tages mit Methoden, die Europas humanistischen Werten widersprächen, beantwortet würde.

E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2018)

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