Kurz zwischen Gut und Böse

Sebastian Kurz
Sebastian KurzAPA/ERWIN SCHERIAU
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Der Kanzler wird in Europa und Österreich einmal als Held gefeiert, einmal als Beelzebub verachtet. Wie wäre es mit mehr Augenmaß?

Verfolgt man weite Teile der Berichterstattung der vergangenen Wochen, muss der durchschnittliche Medienkonsument zu einer klaren Einschätzung der türkis-blauen Regierung kommen. Erstens: Sebastian Kurz und seine Schergen führen uns in eine autoritäre Republik, die sogar Viktor Orbán frösteln ließe. Zweitens ist Kurz drauf und dran, Österreich zu einem Schwellenland umzubauen, in dem nach dem Zwölf-Stunden-Tag auch bald wieder die Kinderarbeit eingeführt werden könnte. Und drittens wird Kurz als EU-Ratspräsident sich und unser Land als Amateure in Sachen EU-Politik blamieren. Den Anfang machte er, indem er mit Horst Seehofer, dem Donald Trump in Lederhose, in der Flüchtlingsfrage Angela Merkel forderte und nichts erreichte. Die Umfragen für die bayrische Landtagswahl hat Seehofer mit seinem Kurz-Paarlauf schon verloren. So oder so ähnlich lautet(e) die Einschätzung vieler Journalisten und Kommunikatoren.

Es gibt aber auch eine andere: Seehofer und Kurz haben ihre Flüchtlingspolitik endgültig kommissionsfähig gemacht. Und laut jüngsten Umfragen liegen ÖVP und FPÖ bei stabilen Werten, die Freiheitlichen sollen in einer aktuellen Sonntagsfrage sogar die SPÖ überholt haben. Der Verdacht drängt sich auf, dass die veröffentlichte Meinung zu einem großen Teil nicht der öffentlichen Meinung entspricht. Ähnliches gilt auch für einen Kommentator der internationalen Wirtschaftsagentur Bloomberg, der Kurz für die Führung der EU als Nachfolger Angela Merkels positioniert sieht. Und außerdem schreibt: Kurz und Merkel könnten gerade in der Flüchtlingsfrage weiter eine Art „Good cop, bad cop“-Rollenspiel versuchen. Für das deutsche Feuilleton und seine Kopierer wäre das beinahe Verrat: Die Ikone der Vernunft und Humanität könnte mit dem Beelzebub aus der vormaligen Ostmark ein gemeinsames Spiel betreiben? Unmöglich! Und dennoch ist Merkel seit dem Flüchtlingsjahr 2015 das Grenze-auf-Grenze-zu-Spiel nicht fremd. Abseits der freundlichen humanitären Rhetorik haben schon damals und bis heute bayrische Grenzbeamte restriktiver agiert, als man gemeinhin annimmt.


Das alles sind Meinungen und Momentaufnahmen, die zeigen, dass Sebastian Kurz, der Posterboy unserer polarisierten Gesellschaft und Publizistik, für Gegner wie Anhänger, für Linke wie Rechte – nein, die Unterteilung ist noch nicht überholt – die Projektionsfigur schlechthin ist. Eine differenzierte Meinung zu vertreten wird immer schwieriger.

Kleine Beispiele, die zuvor angerissen wurden: Nein, die gesetzliche Ermöglichung des Zwölf-Stunden-Tags ist unumgänglich für den Wirtschaftsstandort. Die alte Position der Volkspartei (und der ÖVP-geführten Bundesländer), statt neue notwendige Kinderbetreuungsplätze zu schaffen, und zwar auch am Nachmittag (!), lieber Familien finanziell zu fördern, hilft bei der Vereinbarkeit von Mutterschaft/Vaterschaft und Zwölf-Stunden-Tag nicht bis wenig. Oder eben die Flüchtlingsfrage: Selbst die größten Romantiker eines neuen offenen Europa dürften begriffen haben, dass abgelehnte Asylbewerber auch in ihre Heimatländer zurückmüssen. Sonst brauchen wir auch keine Asylverfahren mehr. Wenn aber gut integrierte Lehrlinge in Branchen betroffen sind, die ohnehin unter massivem Bewerbermangel leiden, wäre eine gesetzliche Einwanderungsmöglichkeit schon aus volkswirtschaftlichen Überlegungen keine schlechte Idee. Oder die Rückweisung an der Grenze: Wer schon einmal Asyl in einem anderen Land beantragt hat, muss abgewiesen werden dürfen. Deswegen die Grenze wie in den 60Jahren des vergangenen Jahrhunderts hermetisch zu kontrollieren ist eine hysterische Überreaktion. Genau die sollten wir uns in Zukunft überhaupt sparen. In der Politik und in den Medien.

Sebastian Kurz ging am Samstag übrigens mit seinen Anhängern wandern. Es wird für ihn in jedem Fall ein langer Weg werden.

rainer.nowak@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2018)

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