Das Gesundheitssystem zersplittert in ein Mehr-Klassen-System, immer mehr müssen auf den privaten Sektor ausweichen. Damit stellt sich die soziale Frage.
Es ist ein Symbol für den Zustand der Gesundheitspolitik in Österreich: das Milliardenprojekt Krankenhaus Nord, das zu den modernsten Spitälern Europas zählen wird. Wenn es irgendwann einmal eröffnet, nach einer Serie von Pleiten, Pech und Pannen samt enormer Kostenexplosion. Das Hightech-Spital, das eine gesundheitspolitische Leistungsschau des Roten Wien sein soll, hätte nach dem Ursprungsplan seit 2015 in Betrieb sein sollen. Nach Missständen, Änderungen, Fehlplanungen und Chaos beim Bau ist nicht nur der Zeitplan explodiert, sondern auch die Kosten – von 825 Millionen Euro auf bis zu 1,5 Milliarden Euro.
Es ist ärgerlich: Das Spital Nord lenkt den Blick von den kritischen Problemen des heimischen Gesundheitssystems ab, deren Behandlung wichtiger ist als die Frage: Wird ein Wiener Spital Monate früher oder später eröffnet? Denn die Symptome sind seit Jahren sichtbar, werden von der Politik aber einfach ignoriert.
Ein Beispiel: Von 2010 bis 2017 sind die Ausgaben für Wahlarztleistungen österreichweit enorm gestiegen. Spitzenreiter ist die Wiener GKK, die um 87,3 Prozent mehr Geld für Refundierungen ausgegeben hat. Diese dramatische Entwicklung ist das sichtbarste Symptom einer Zwei-Klassen-Medizin – von Vorarlberg bis Wien: Patienten bekommen nur einen Bruchteil der Wahlarztkosten refundiert.
Ein nüchterner, marktwirtschaftlicher Grundsatz: Wenn sich Kunden von einer Firma abwenden, gibt es zwei mögliche Gründe: Mangelnde Qualität oder mangelnde Verfügbarkeit. Nachdem die Qualität der österreichischen Ärzte und medizinischen Einrichtungen zum internationalen Spitzenfeld zählt, bleibt nur Punkt zwei: die mangelnde Verfügbarkeit.
Die massiv gestiegene Zahl der Wahlärzte ist nicht das Problem, vielmehr retten diese Mediziner das Gesundheitssystem. Zumindest für jene, die sich einen Wahlarzt leisten können. Ähnliches trifft auf (über)lebenswichtige Untersuchungen wie etwa MRT im Bereich der Krebsdiagnose zu. Damit sind wir (auch) in der Sozialpolitik. Jene, die nicht privilegiert sind, die es aufgrund ihrer sozialen Herkunft ohnehin schwerer haben als andere, werden beim Zugang zum Gesundheitssystem massiv benachteiligt. Das ist inakzeptabel. Es ist ein altes Spiel: Lange Wartezeiten und fehlende Angebote im niedergelassenen Bereich treiben Patienten zu Wahlärzten oder (bei fehlenden finanziellen Mitteln) in die Ambulanzen. Sozialversicherungen sehen das entspannt, werden damit ihre Kosten doch zu den Spitalsbetreibern (meist die Länder) verlagert. Überlange Wartezeiten in Ambulanzen treiben wiederum Patienten zurück in den niedergelassenen Bereich, der dafür nicht gut genug ausgebaut ist. Wer Geld hat, steigt aus diesem Kreislauf aus und geht zum privaten Wahlarzt.
Das Gesundheitssystem gehört neu aufgestellt – mit einer Finanzierung aus einer Hand. Dann würden keine Kosten hin- und hergeschoben, das System würde effizienter, patientenfreundlicher und sozial gerechter werden.
Parallel dazu muss sich der niedergelassene Bereich radikal ändern. Hier geht es um Öffnungszeiten, Synergien (Primärversorgungszentren etc.) und – Kinderbetreuung. Schließlich gibt es einen Grund, weshalb die überwältigende Mehrheit im Wahlarztbereich Medizinerinnen sind: Kassenverträge sind mit Kinderbetreuung oder Teilzeit nicht vereinbar. Als Folge sind beispielsweise im Bereich der Gynäkologie Termine bei einer Frauenärztin oft mit unerträglich langen Wartezeiten verbunden, manche Ärztinnen nehmen keine neuen Patientinnen an. Und das zwingt viele in den Wahlarztbereich. Denn laut Studien bevorzugen bis zu 60 Prozent der Patientinnen eine Frauenärztin, nur knapp über zehn Prozent will einen Frauenarzt.
Das angeblich beste Gesundheitssystem der Welt ist in ein Drei-Klassen-System zersplittert. Erstens in Patienten, die sich private Ärzte und Untersuchungen leisten können. Zweitens in jene mit Beziehungen. Und dann in die Mehrheit, die acht Stunden in Ambulanzen sitzt und (lebens)wichtige Untersuchungen erst dann bekommt, wenn es möglicherweise schon zu spät ist.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2018)