Merkels Abschied auf Raten brachte die SPD unter Zugzwang. Ihr Dilemma: Juniorpartner in der GroKo oder eine Neuwahl als Selbstmordkommando.
Zwei Mal innerhalb von 20 Stunden trat Andrea Nahles im Willy-Brandt-Haus vor die Hauptstadtpresse in Berlin. Gezeichnet und zermürbt vom Niedergang der stolzen deutschen Sozialdemokratie hinterließ die SPD-Chefin einen so entnervten wie verzweifelten Eindruck, als würde die ehemalige Ministrantin Beistand von der überlebensgroßen Skulptur des Säulenheiligen der Partei erflehen, die ihr über die Schultern blinzelte. „Heiliger Willy, hilf!“, schien ihr Gesichtsausdruck zu sagen. Welchen Rat hätte Willy Brandt angesichts des Fiaskos parat?
Im CSU-Stammland Bayern ist die SPD unter die Zehn-Prozent-Marke gefallen, im einstmals „roten“ Hessen unter 20 Prozent – strafverschärfend jeweils hinter die Grünen. Das hat Nahles gründlich die Laune verdorben, zumal sie obendrein ein Loblied auf Angela Merkel zum avisierten Abgang als CDU-Vorsitzende anzustimmen hatte. Die beiden Frauen, die zuweilen schrille und laute Sozialdemokratin und die nüchtern-pragmatische Christdemokratin, haben sich im Lauf der Jahre als Politikerinnen schätzen gelernt.
Die Kanzlerin hatte sie jetzt jedoch wieder einmal überrumpelt. Statt einen Neustart der arg geschrumpften, ungeliebten Koalition zu verkünden und einen Fahrplan für das Regierungsprogramm zu präsentieren, stand Nahles wieder einmal im mächtigen Schatten der Regierungschefin. Der Teilrückzug Merkels, ihr Abschied auf Raten, hat eine Dynamik ausgelöst, die nicht nur CSU-Chef Horst Seehofer in den Rücktrittssog reißt, sondern auch Nahles unter Zugzwang bringt.
Es ist ein Herbst des Missvergnügens für die SPD. In Umfragen befindet sich die SPD im freien Fall. Mittlerweile ist die älteste Partei Deutschlands gar auf den vierten Platz geplumpst. Im Grunde genommen verliert sie kontinuierlich seit dem Ende der Ära Schröder, obwohl sie sich drei Mal in die Regierung gerettet und ihr inhaltlich großteils den Stempel aufgedrückt hat. Schröders Reformagenda spaltet die SPD weiterhin, und sie ist zerrissen zwischen Regierungsverantwortung und Sehnsucht nach Opposition. Dieser innere Widerspruch, diese Zerrissenheit sind das große Dilemma der SPD. Eine Wahl zwischen Pest und Cholera.
Soll sie sich in einer dringend gebotenen Selbstfindungsphase in der Opposition erneuern – oder gleich neu erfinden –, wie längst nicht nur die Jusos fordern? Als Juniorpartnerin unter Merkel taumelte die SPD von einer Schlappe zur nächsten. Einstweilen bleibt ihr aber nur, auf Zeit zu spielen – und die vage Hoffnung auf eine neue Chance in einer Post-Merkel-Ära. Denn bei Neuwahlen wäre momentan der Absturz der SPD garantiert – ein Selbstmordkommando, wie die Stimmen der Vernunft in der Partei sagen. An der Basis indessen gärt es, und die Emotionen kochen hoch – zu groß ist der Überdruss an der GroKo.
In einem Jahr, so das Kalkül von Nahles und Konsorten, muss sich die schwindsüchtige SPD konsolidiert haben. Vorausschauend reklamierte sie in den Koalitionsvertrag eine Revisionsklausel zur Halbzeit, die es ihr erlaubt, die Regierung platzen zu lassen. Sie muss indes einen plausiblen Grund dafür vorweisen, und sie muss eine durchdachte Exitstrategie entwickeln, um bei vorzeitigen Wahlen nicht unter die Räder zu kommen. Es herrscht Alarmstufe Rot.
Zunächst hat sich die SPD eine Klausur und ein „Debattencamp“ verschrieben, um eine „neue Vision“ für die Herausforderungen der Zeit zu formulieren. Dass sie die Grünen in der Umweltpolitik, ihrer Kernkompetenz, angreifen will, ist jedenfalls ein Zeichen der Ratlosigkeit. Dass sie nicht zum dritten Mal innerhalb von 20 Monaten die Führungsfigur austauschen und Andrea Nahles etwa durch Manuela Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, austauschen kann, ist der SPD immerhin klar. Tragisch genug, dass Exchef Sigmar Gabriel, der begabteste SPD-Politiker, das Treiben nur von der Seitenlinie aus beobachtet.
Es deutet wenig darauf hin, dass die SPD bis zum Herbst 2019 den Abwärtstrend stoppen kann – erst recht nicht bei den drei Landtagswahlen im Osten Deutschlands. Womöglich hilft tatsächlich nur ein Stoßgebet – zu Willy Brandt, Martin Luther oder wem auch immer.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2018)