100 Dinge, die Österreich ausmachen

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Die II. Republik ist ein politisches wie wirtschaftliches Wunder. Davor waren die Söhne der I. Republik am Holocaust beteiligt – oder nicht in der Lage und willens, ihn zu verhindern. Die Ambivalenz prägt dieses Land.

Wer wäre ein geeigneterer Gesprächspartner über 100 Jahre Republik als Hugo Portisch? Der Historiker und publizistische Doyen Hugo Portisch, der wie kein anderer spielend die Brücke zwischen Tiefgang und Leichtigkeit bei der Vermittlung von Geschichte schlagen kann. Auf die kollegiale Frage „Was soll ich denn zum Republiksjubiläum schreiben?“ antwortet er lächelnd: „Etwas Gutes“ und dann ernst: „Österreich, vor allem die Zweite Republik, ist ein großer und eigentlich für alle überraschender Erfolg.“

Dass nach der Katastrophe, dem Massen- und Völkermorden im Holocaust, in wenigen Jahrzehnten ein kleiner österreichischer Staat mit funktionierendem demokratischen System, hohem Wohlstand und einer unglaublich robusten Wirtschaft entstehen und funktionieren kann, ist eine kollektive Leistung und eben auch Verdienst mehrerer Politiker der II. Republik. Karl Renner, Julius Raab, Bruno Kreisky, für Portisch waren das keine Heldengestalten, sondern pragmatische politische Führungskräfte, die das Gemeinsame, den Kompromiss an erste Stelle reihten.

Verdrängung und kollektive Amnesie

Es war Franz Vranitzky, der mit seiner großen Schuldeingeständnis- und Entschuldigungsrede zur Beteiligung der Österreicher am Holocaust „den letzten Sack von unserer Schulter“ genommen hat, wie Portisch sagt. Die Verdrängung der Geschichte kennzeichnet den ersten Umgang nach dem Trauma, in Österreich wäre sie noch lang als kollektive Amnesie geblieben.

Die Erste Republik war ein demokratiepolitischer Gehversuch mit der kleinen Konkursmasse eines einstigen Großreichs. Die Zweite ein gelungenes Schnellstudium der gesamten Gesellschaft und ihrer Elite in Demokratie, Gewaltlosigkeit und Marktwirtschaft mit mehr als großzügiger Sozial- und Schuldenpolitik.

Kaum ein anderes Land, kaum eine andere Bevölkerung hat sich innerhalb von 100 Jahren so verändert beziehungsweise so oft ändern müssen: Begonnen haben sie als Bürger einer der großen mächtigen Monarchien des Kontinents, dann scheiterten sie als Bewohner und Wähler eines Demokratie-Experiments – wie in Deutschland, und doch ganz anders.

Sie starben oder überlebten als Opfer, Täter oder Mitläufer in der schlimmsten Diktatur, die es auf diesem Boden je gegeben hatte. Als Wiedererbauer und Wohlstandskinder machten sie sich auf die Suche und entdeckten das Glück des privaten Wohlstands und verorteten sich geopolitisch in Europa. In einer jüngst publizierten Studie und Umfrage, dem Österreich-Teil der „Europäischen Wertestudie“, fallen zwei Ergebnisse auf. Erstens, dass die Österreicher so zufrieden wie nie zuvor sind. Zweitens, dass die Sehnsucht nach dem Führer, dem starken Mann an der Spitze, abnimmt. Good News.

Generation Kreisky kennt nur Wohlstand

Ganz menschlich und doch erstaunlich ist die Reflexion der in den Jahrzehnten um die Jahrtausendwende Geborenen, die ab der Generation Kreisky eingesetzt hat: Diese blühenden Landschaften, das glänzende und das düstere historische Erbe des Landes, der Frieden und der breite Wohlstand werden als Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Das sind sie aber nicht. Und ebenso paradox: Trotz der großen individuellen Zufriedenheit punkten Parteien ausgerechnet mit dem Versprechen, dass es wieder so wie (viel) früher werden müsse. Als wäre die Erfolgsgeschichte Österreichs schon zu Ende geschrieben.

In diesem historischen Gedenkjahr – die Republik wird 100, das Ende des verheerenden Ersten Weltkriegs jährt sich, ebenso das der großen (1848) und kleinen (1968) gesellschaftspolitischen Revolution – hat „DIE PRESSE“ das ganze Jahr über Schwerpunkte gesetzt. Und die Geschichte der Republik mit einem unserer „Geschichte“-Magazine ausgeleuchtet.

Leicht und schwer

Für diese Ausgabe haben wir uns an 100 Dingen abgearbeitet, die dieses Land (auch) ausmachen. Wir haben ganz bewusst zwischen leicht und schwer, zwischen ernst und ironisch, zwischen naheliegend und weiter hergeholt gewechselt. So, wie wir gern Journalismus seit 170 Jahren betreiben – wie ich hoffe, im Sinn von Hugo Portisch und natürlich von Ihnen, den Leserinnen und Lesern.

Ein bisschen kokett haben wir uns erlaubt, als 100. und in unserer Liste letzten Begriff „Die Presse“ zu wählen, die Österreich (mit-)ausmacht. Über die Strecke dieser 100 Jahre prägten wir das Land mit, das Land prägte diese Zeitung, die in der NS-Zeit eingestellt und nach der Befreiung neu gründet wurde.
Wie die Zweite Republik.

E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2018)

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