Der Brexit hat auch positive Seiten für die EU

Während in London insbesondere jene Entscheidungsträger, die für ein „Vote Leave“ geworben haben, bis heute in Schockstarre sind, hat sich das politische Brüssel einigermaßen schnell vom Brexit-Schrecken erholt.
Während in London insbesondere jene Entscheidungsträger, die für ein „Vote Leave“ geworben haben, bis heute in Schockstarre sind, hat sich das politische Brüssel einigermaßen schnell vom Brexit-Schrecken erholt.(c) REUTERS (Hannah Mckay)
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Das Chaos seit dem Austrittsvotum und die ungewohnte Einigkeit der Union haben zu einem Anstieg der EU-Zustimmung geführt.

Als das knappe Ergebnis des britischen Austrittsvotums am Morgen des 24. Juni 2016 über die Bildschirme flimmerte, wollte in London und Brüssel, aber auch im Rest Europas niemand so recht an die damit geschaffene Tatsache glauben: Das Vereinigte Königreich wird die Europäische Union verlassen. Artikel 50 der EU-Verträge – in der Theorie geschaffen, um EU-Gegnern zu versichern, „dass die Union kein Gefängnis ist“ (© Kommissionsvize Frans Timmermans) – sollte entgegen allen Hoffnungen zum Einsatz kommen.

Während in London insbesondere jene Entscheidungsträger, die für ein „Vote Leave“ geworben haben, bis heute in Schockstarre sind, hat sich das politische Brüssel einigermaßen schnell vom Brexit-Schrecken erholt. Der erfahrene Ex-Kommissar Michel Barnier entpuppte sich als richtige Wahl für die EU-Verhandlungsführung. Er führte die Gespräche mit Härte und Umsicht – ganz nach dem Kalkül: Wenn wir es London schwer machen, wird den Briten das Austrittsreferendum so bald kein zweiter Mitgliedstaat nachmachen. Das Kalkül ist aufgegangen. „Bei aller Tragik – für die EU bedeutet der Brexit auch eine Win-Situation. Und zwar egal, wie die Verhandlungen ausgehen“, sagen Brüsseler Diplomaten hinter vorgehaltener Hand.

Sie dürften recht behalten: Das verdeutlichen auch die Ergebnisse der jüngsten Eurobarometer-Umfrage vom September. Die Zustimmung zur EU erreichte mit 62 Prozent den höchsten Wert seit dem Jahr 1992; Tendenz weiter steigend. Nur noch elf Prozent sind der Meinung, dass die Mitgliedschaft „eine schlechte Sache“ sei. Selbst besonders EU-kritisch eingestellte Bürger, so scheint es, wollen im eigenen Land nicht dasselbe Chaos erleben, welches das Vereinigte Königreich seit nunmehr zweieinhalb Jahren durchrüttelt. Vorbei sind auch die Zeiten, als populistische Parteien mit dem EU-Austritt warben. Keinem FPÖ-Politiker würde das vor dem britischen Referendum populäre Wort „Öxit“ heute über die Lippen kommen.

Gleichzeitig reißt die Kritik an der EU nicht ab – und das, man muss es leider sagen, in vielen Fällen zu Recht: Die Flüchtlingskrise etwa zeigt das Scheitern der Mitgliedstaaten bei einem auch innenpolitisch hoch emotionalen Thema in beeindruckender Weise. So war es das prioritäre Ziel der noch bis Ende Dezember laufenden österreichischen Ratspräsidentschaft, unter dem Motto „Ein Europa, das schützt“ den gemeinsamen EU-Außengrenzschutz zu fixieren – ein Vorhaben, das sich seit Jahren hinzieht. Konkret geht es um eine Aufstockung und einige erweiterte Befugnisse der Frontex-Grenzbeamten. Mehrere Länder im Süden und Osten Europas weigern sich jedoch, diesen Plänen zuzustimmen. Sie fürchten um ihre Souveränitätsrechte: Bei der Registrierung von Flüchtlingen etwa will sich Griechenland nicht über die Schulter schauen lassen, weil Athen es damit wohl bisher nicht so genau genommen hat.

Auch die Reform der Eurozone schreitet wegen grober Differenzen innerhalb der Währungsunion kaum voran – und das, obwohl den EU-Chefs durchaus bewusst ist, dass die Eurokrise lediglich unter Kontrolle gebracht, nicht aber gelöst ist. Im Gegenteil: Schon morgen könnte ein neuerlicher Ausbruch in ungeahnt schlimmerer Dimension bevorstehen, sollte Italien wegen seiner unüberlegten Budgetpolitik ins Visier der Märkte geraten.


Lediglich beim Brexit demonstrierte die EU zuletzt eiserne Konsequenz und ungewohnten Zusammenhalt. Nicht ein einziges Mal wurden die Gespräche zum nunmehr verhandelten Austrittsvertrag von Zwischenrufen aus den Hauptstädten gestört – die spanische Vetodrohung wegen Gibraltar ausgenommen. Das machte es den Briten nicht leichter, stärkte aber das Ansehen der EU. Besonders mit Blick auf die Europawahlen im kommenden Mai – bei denen Populisten hohe Zugewinne erwarten dürfen – sollten die Staats- und Regierungschefs statt nett verpackter Absichtserklärungen also auch bei anderen wichtigen Zukunftsfragen endlich Taten setzen. Wer weiß, wie hoch die EU-Zustimmung noch steigen kann.

E-Mails an:anna.gabriel@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2018)

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