Die übersexualisierte Gesellschaft

Die Kirche will ablenken, wenn sie sexuellen Missbrauch auf die allgemeine Verluderung der Sitten zurückführt. Doch nicht nur Generalvikare sollten fragen, ob die Kultur nackter Dummheit sein muss.

Die katholische Kirche hat zuletzt auf vielen Wegen versucht, mit dem Umstand umzugehen, dass sich Priester sexuell an Kindern vergriffen haben. Zu den beeindruckendsten Versuchen zählt das offenherzige und mitfühlende Schuldbekenntnis, das Kardinal Christoph Schönborn diese Woche abgelegt hat. Daneben lag jedoch der Hausprediger des Papstes, als er sich am Karfreitag hinter dem Zitat eines jüdischen Freundes versteckte und antiklerikale Angriffe mit dem Antisemitismus verglich. Das ging sogar dem Sprecher des Vatikans zu weit; er distanzierte sich.

Fester verankert im taktischen Fundus der Kirche ist ein anderes Ablenkungsmanöver: Der Papst selbst ließ es aufblitzen, als er in seinem Hirtenbrief an die Iren den sexuellen Missbrauch in den „Gesamtkontext der Säkularisierung“ stellte. Roland-Bernhard Trauffer, der Basler Generalvikar, wurde in der „Berner Zeitung“ deutlicher. „Die Medien blenden den größten Abgrund aus“, sagte er. „Die ganze Gesellschaft krankt an einer deregulierten Sexualität.“

Verluderung. Dieser Satz verleitet zunächst einmal zu Spott. Was will der gute Mann denn da genau regulieren? Will er den Oralverkehr und die Hüftjeans verbieten, will er zum Generalstreik in der Pornoindustrie aufrufen oder gleich auch das Talkshowdauergelaber über Silikonbrüste und Orgasmusschwierigkeiten unter Strafandrohung stellen? Und wer soll in der neuen Regulierungsbehörde Stimme und Sitz haben? Ausschließlich Moraltheologen, oder reicht es, wenn Beamte des Bundesministeriums für Wirtschaft, Familie und Jugend in Zusammenarbeit mit einer neu zu bildenden Sittenpolizei für Zucht und Ordnung sorgen?

Der Generalvikar ist nicht der Erste, der schnell auf die allgemeine Verluderung der Sexualmoral zu sprechen kommt, wenn von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche die Rede ist. Schon vor ihm haben etliche kirchliche Würdenträger allen Ernstes die These vertreten, dass die 68er die Wurzel allen Übels seien, als ob in jedem pädophilen Priester der Geist von Rudi Dutschke, Rainer Langhans und (der etwas ältere Geist von) Wilhelm Reich steckte.


Aus allen Poren. Doch ganz so falsch liegt der Generalvikar auch wieder nicht. Abgesehen vom unpassenden Konnex zum Missbrauchsskandal lohnt sich allemal eine Debatte, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, der die Sexualität aus allen Poren rinnt. Pornografie ist nicht nur zum Maßstab für Sexualverhalten geworden, sie prägt Mode, Popkultur und Schönheitsvorstellungen.

Wenn sich Jugendliche plötzlich glatt rasieren wie Pornostars, wenn Rapper übers Arschficken sinnieren, wenn man per E-Mail ständig Einladungen zur Schwanzverlängerung erhält, wenn sich schon kleine Schulkinder auf ihren Handys Hardcore-Gangbangs anschauen, wenn in der Werbung auch Elektrogeräte und die ÖBB möglichst geil und sexy sein müssen, dann braucht man nicht der Generalvikar von Basel zu sein, um sich die Frage zu erlauben, ob es in diesem System der grassierenden nackten Dummheit irgendwo eine Stopptaste gibt oder alles zwangsläufig immer freizügiger, ordinärer und pornografischer werden muss.

Moralische Instanzen, die autoritär Tabus festlegen, existieren, anders als im Iran oder in Saudiarabien, in der westlichen Welt des 21.Jahrhunderts nicht mehr. Die Kirche mag das bedauern. Für freie Menschen ist es ein Fortschritt. So wie auch Laszivität bei allem ärgerlichen Nervpotenzial eindeutig weniger Seelenschaden anrichtet als die rigide Unterdrückung der Sexualität. Eine freie Gesellschaft kann auch ohne ein zentrales Über-Ich ein Wertesystem errichten, Toleranzgrenzen einziehen und sogar Gesetze gegen Pornografie beschließen. Davor muss sie sich aber erst klar werden, was sie will. Da einen Konsens zu finden ist mühsam.

Die Alternative könnte jedoch die völlige pornografische Verrohung und Verblödung sein. Tiefer ist es ja immer noch gegangen.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.