Von der Globalisierung haben vor allem die anderen profitiert

Während die Globalisierung in China und Indien eine neue Mittelschicht hervorbrachte, kamen die Einkommen der amerikanischen und europäischen Mittelschicht „kaum vom Fleck“.
Während die Globalisierung in China und Indien eine neue Mittelschicht hervorbrachte, kamen die Einkommen der amerikanischen und europäischen Mittelschicht „kaum vom Fleck“.(c) APA/AFP/ANTHONY WALLACE
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Wir sind stehen geblieben, Länder wie China und Indien haben aufgeholt. Die Welt ist dank der Globalisierung gleicher geworden. Das ist unser Problem.

Welcher Erfindung, welcher Entwicklung verdanken wir unseren Wohlstand? War es der Buchdruck? War es die Entdeckung Amerikas – also die Globalisierung? Der Publizist und Autor Wolf Lotter meint, dass die Erfindung der Brille die Menschheit ein gehöriges Stück vorangetrieben hat. Ende des 13. Jahrhundert in Norditalien haben Gelehrte ein probates Hilfsgerät aus Glas für Schwachsichtige entwickelt. Und plötzlich konnten Ältere ihr Wissen und ihre Erfahrung länger nutzen und an die nächste Generation weitergeben. Heute tragen etwa 60 Prozent der über 16-Jährigen eine Brille. Doch immer weniger verstehen, was sie sehen. Die Welt ist kompliziert geworden, und die Wirtschaft nahezu grenzenlos.

Die Globalisierung war so lange gut, solange wir die Eroberer waren. Doch spätestens seit 2008, seit der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise, hat sich unsere Sicht der Dinge verändert. Der deutsche Philosoph und Politologe Michael Werz spricht sogar von einer „neuen Zeitrechnung“, einer neuen Epoche. Und diese ist geprägt von einer Renaissance des Protektionismus, Nationalismus und Totalitarismus. „Was bringt uns das große Ganze, wenn wir nicht mehr Herr im eigenen Haus sein können?“, lautete die bange Frage vieler Menschen in Europa und Nordamerika. Und als Antwort gab es Brexit, Trump, abgeblasene Freihandelsabkommen und Abspaltungsbewegungen wie jene in Katalonien.

Es hat also tatsächlich den Anschein, dass wir die Globalisierung zurückdrängen, eindämmen, in manchen Bereichen gar rückgängig machen. Doch trotz modernster Sehhilfen trügt dieser Blick. Das sagen zumindest amerikanische Ökonomen. Trotz Handelskriegs zwischen USA und China, trotz Aufbaus neuer Handelshemmnisse, war die Welt noch nie so international vernetzt wie 2017. Waren, Menschen, Daten und vor allem Kapital überschritten mehr Grenzen denn je. Das klingt dramatisch, ist es aber nicht.

Der gestern veröffentlichte Report zeigt nämlich in erster Linie, dass wir das Phänomen der Globalisierung bisher wohl viel größer eingeschätzt haben, als es ist. Nur eines von tausend Unternehmen weltweit ist tatsächlich über die Landesgrenzen hinaus tätig. Selbst die Exportnation Österreich nimmt sich bei näherer Betrachtung eher bescheiden aus. Denn mehr als die Hälfte unserer Exporte schaffen es gerade einmal in eines unserer Nachbarländer – vorzugsweise nach Deutschland.

Und dasselbe gilt übrigens auch für die Importe. Wir führen nach wie vor mehr Waren aus Italien als aus China ein. Und wir exportieren nur unwesentlich mehr nach China als nach Slowenien oder in die Slowakei. Bei aller Wertschätzung der heimischen Exportwirtschaft. Sie ist mit bloßem Auge relativ leicht überschaubar.


Wie sagte schon die berühmte Fotografin Gisèle Freund: „Das Auge macht das Bild, nicht die Kamera.“ Wir sehen also, was wir sehen wollen, mag das Hilfsgerät aus Glas auch noch so probat sein. Und wir sehen die großen Ausreißer nach oben. Google, Facebook, Amazon, Blackrock und deren vermeintlich grenzenlose Macht. In einer globalisierten Welt sind die Konzerne die neuen Supermächte, lautet das Credo der Gegner des Freihandels.

Tatsächlich spielt sich die Wirtschaft vor unserer Haustüre ab. Acht von zehn Euro verdienen wir im eigenen Land oder in einem Nachbarland. Amazon brachte es 2017 in Österreich auf einen Jahresumsatz von 650 Millionen Euro. Nur zum Vergleich: Diese Kleinigkeit setzt eine Spar-Gruppe in knapp drei Wochen um.

Unser größtes Problem mit der Globalisierung ist, dass wir kaum von ihr profitiert haben. Das attestierte auch der bekannte Ökonom und Gleichheitsforscher Branko Milanović jüngst in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“. Während die Globalisierung in China und Indien eine neue Mittelschicht hervorbrachte, kamen die Einkommen der amerikanischen und europäischen Mittelschicht „kaum vom Fleck“.

Die Globalisierung verringerte die Ungleichheit auf dieser Welt. Das klingt ganz schön – bedrohlich.

E-Mails an: gerhard.hofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2019)

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