Internetkonzerne stellen ihre User mit Gratiscontent ruhig, während sie deren Persönlichkeitsprofile ausweiden. Die EU schreitet zu Recht ein.
Wenn es darum geht, eine Person von ihrem Hab und Gut zu trennen, greifen Taschendiebe bevorzugt zum Mittel der Ablenkung. Ein heftiger Stoß, ein lautes Geräusch, ein simuliertes Handgemenge – schon ist das Portemonnaie weg und der Missetäter im Meer der Passanten untergetaucht. Ohne (pharmakologische) Ablenkung kann auch kein Chirurg seine Arbeit verrichten, denn der Patient muss zuerst sediert werden, damit er anschließend vom entzündeten Blinddarm befreit werden kann. Dasselbe Prinzip gilt ebenfalls im World Wide Web. Facebook, Instagram und Co. stellen ihre Nutzer mit unentgeltlichen Inhalten ruhig, während sie ihre Persönlichkeitsprofile ausweiden. Nur, dass die User im Gegensatz zu Patienten und Bestohlenen auch im Nachhinein nicht merken, dass ihnen etwas fehlt.
Diese hochprofitable Datenamputation hat die EU auf den Plan gerufen. Nach der bereits in Kraft getretenen Datenschutzrichtlinie stimmte das Europaparlament am Dienstag für die längst überfällige Reform des europäischen Urheberrechts. Die bisherigen Regeln, die aus der Internetsteinzeit der frühen 1990er-Jahre stammen, werden an die Gegenwart angepasst und sollen dafür sorgen, dass Schöpfer von digitalisierbaren Inhalten – Musiker, Schriftsteller, Reporter, Filmemacher – an der kommerziellen Verwertung ihrer Schöpfungen umfangreicher beteiligt werden, als dies bis dato der Fall war.
Gegen diese Forderung ist eine seltsame Allianz ins Feld gezogen, die von den klimatisierten Konzernzentralen im Silicon Valley bis hin zu besetzten Häusern in Berlin, von ultralibertär bis links-autonom, gereicht hat. Wenn die Kritik an einer Gesetzesänderung aus unterschiedlichen Richtungen kommt, aber dieselbe Stoßrichtung hat, dann kann das zwei Gründe haben: Entweder ist das Reformvorhaben dermaßen schlecht, dass es quasi automatisch zur Bildung einer Gegenfront der Vernunft kommt. Oder ein Teil der Kritiker hat irgendetwas nicht gecheckt.
Nachdem die gesetzgeberischen Kapazitäten der europäischen Institutionen alles andere als unterentwickelt sind, kann man im Fall des Urheberrechts von Zweiterem ausgehen. Die Internetriesen wussten genau, warum sie die Copyright-Reform verhindern wollten. Die Schar der besorgten Bürger hingegen hat geglaubt, es gehe um Memes und Meinungsfreiheit, halblustige Tierfilme und das digital geteilte Rezept von Omas Zwetschkenröster, während es in Wahrheit um Macht, Monopole und Milliardengewinne geht.
Lassen wir an dieser Stelle die Frage nach der gerechten Entlohnung der Urheber beiseite und konzentrieren wir uns auf die Motive der Onlinekonzerne. Sie lehnen jegliche Einschränkungen des Informationsflusses ab, weil sie ihre Software mit Content aufpäppeln. Je mehr Daten, desto aufgeweckter die künstlichen Intelligenzen – und desto besser die Algorithmen, die zum Austausch von noch mehr (urheberrechtlich geschützten) Inhalten animieren sollen. Dieser neue Content wiederum macht die Algorithmen noch suggestiver und so weiter und so fort. Bis eines unschönen Tages die Software unschlagbar vif und das Prinzip, das Urheber nicht entlohnt werden müssen, in Silikon gemeißelt ist. Und die User in ihren sozialen Netzwerken hoffnungslos verheddert sind – halb Melkkuh, halb Content-Junkie.
Wer nun davor warnt, das neue EU-Urheberrecht würde der Zensur Tür und Tor öffnen, blendet aus, dass es längst dazu gekommen ist: Die algorithmisch gesteuerten Filterblasen, die User von Inhalten abschirmen, die nicht mit ihren vermeintlichen Überzeugungen übereinstimmen, sind nichts anderes als eine besonders perfide, subkutane Form der Zensur. Kann die Copyright-Reform irgendetwas dagegen ausrichten? Hoffentlich. Für die Steuerungssysteme der sozialen Netzwerke sind Songs, Filme, Reportagen und Romane nichts anderes als Bits und Bytes. Für uns Menschen sind sie die Software unseres Bewusstseins. Und gute Software gibt es, wie jeder Computerbesitzer weiß, nicht gratis.
Die digitalen Riesen halten zwar wenig von Urheberrechten auf Ton, Text und Bild. Wenn es aber ums Copyright für ihre kostbaren Algorithmen geht, verstehen sie gar keinen Spaß.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2019)