Der Urnengang im Mai wird manch unappetitliche Gestalt ins neue Europaparlament spülen. Wehrhafte Demokraten müssen damit leben können.
Man kennt die Milchmädchen- und bubenrechnung sattsam, europaweit ergießt sich ihr Resultat in panischen Schlagzeilen: Ein Fünftel, vielleicht gar ein Drittel der Sitze des nächsten Europaparlaments wird von Europagegnern, Populisten, Extremisten eingenommen werden! Für besonders intensiven Lustgrusel sorgt der Umstand, dass Steve Bannon, der einstige Wahlkampfleiter von Donald Trump und kurzzeitig dessen Kabinettschef im Weißen Haus, mit seinem „Movement“ gelobt hat, Europas zentristisches Parteiensystem aus den Angeln zu heben und das Straßburger Parlament von rechtsaußen zu kapern.
Ist das ein Problem? Rücken wir zunächst den Umstand zur Seite, dass Bannon zwar hier und da bei Podiumsdiskussionen rechtsextremer Splitterparteien auftritt, wo er sich unter anderem in seiner Bewunderung für die französischen Gelbwesten ergeht, sonst aber zumindest bisher in Brüssel nicht aufgefallen ist. Mag sein, dass er diskret seine Beraterdienste an rechtspopulistische Bewegungen von Warschau über Berlin und Wien bis Rom leistet. Doch wenn er ein derart diabolisches Zaubermittel für den politischen Erfolg der Chauvinisten und EU-Hasser hat: Wieso zeigt sich das nicht in den Meinungsumfragen? Dort erkennt man nämlich, dass die Zuwächse am extrem rechten Rand des europäischen politischen Spektrums aus genau drei Ländern stammen: Italien mit der Regierungspartei Lega, Frankreich mit Marine Le Pen und Deutschland mit der AfD. Deren Zuspruch beim jeweiligen Volk ist innenpolitischen Umständen geschuldet, die Bannon wahrlich nicht als eigene Leistung in Anspruch nehmen darf.
Zweifellos ist es unschön, wenn Politiker in das Europäische Parlament gewählt werden, die kein Interesse an der Lösung konkreter Probleme im Wege der konsensualen Gesetzgebung haben, sondern ihr Abgeordnetenmandat bloß zum Schüren von Ressentiments und der eigenen Bekanntheit nutzen wollen. Die man übrigens auch zu klingender Münze machen kann – der Brexit-Ayatollah Nigel Farage hat dies jahrzehntelang vorexerziert. Doch eine wehrhafte Demokratie muss damit leben können, wenn Politiker mit unappetitlichen Ansichten in freien Wahlen Mandate gewinnen. Die Grenze muss stets das Strafrecht ziehen: Verhetzung oder der Aufruf zu Gewalt entzieht einem Mandatar die Legitimation. Doch abseits davon ist es besser, extremistische Positionen werden coram publico und direkt aus dem Abgeordnetensaal übertragen geäußert, statt abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit, die noch immer das beste Desinfektionsmittel darstellt.
Die Furcht vor dem Erstarken der Extreme lenkt zudem von der realpolitisch viel wichtigeren Erscheinung ab, welche sich schon jetzt für diese Europawahl vorhersagen lässt. Erstmals, seit dieses Parlament – genau vor vierzig Jahren – direkt von den europäischen Völkern gewählt wird, werden die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten gemeinsam keine absolute Mehrheit mehr stellen. Somit werden sich Europas Schwarze und Rote nach dem 26. Mai nicht mehr wie bisher die Spitzenämter in den Institutionen aufteilen können. Sie werden vielmehr einen dritten Partner brauchen, die Liberalen, welche übrigens mit derzeit acht Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat so stark aufgestellt sind wie noch nie. Ein hochrangiger EU-Diplomat erklärte der „Presse“ gegenüber zudem, dass vermutlich noch eine vierte Partei für diese proeuropäische Koalition vonnöten sein werde (wohl die Grünen).
Daraus entspinnt sich die politische Logik, dass diese Koalition erstmals ein Regierungsprogramm für die neue Kommission wird erarbeiten müssen: Das würde die demokratische Legitimation der EU-Behörde enorm stärken. Es folgt daraus aber auch, dass die Chancen von Manfred Weber, dem Spitzenkandidaten der Christlichsozialen, auf den Kommissionsposten ins Minimale schwinden – denn Liberale, Grüne und Sozialdemokraten würden ihn wohl nur gegen so große Zugeständnisse unterstützen, dass seine Volkspartei sich nach einem Ersatz für ihn umsehen müsste.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2019)