„Brand aus“ in Notre-Dame, noch nicht in der Kirche gesamt

Der Schock über die Flammen sitzt tief.
Der Schock über die Flammen sitzt tief. (c) APA/AFP/THOMAS SAMSON
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In Paris konnte die Substanz der Kathedrale gerettet werden. In Rom ringen Fraktionen um die Substanz dessen, was katholisch 2019 ff. bedeutet.

Sogar die nach einem Brand (!) in den 1950er-Jahren gegossene Pummerin des Wiener Stephansdoms wurde aus Solidarität am Tag nach dem Feuer in der Pariser Bischofskirche Notre-Dame zum Schwingen gebracht. Der Schock über die Flammen, die aus einem der großen Kulturgüter Europas, einer christlichen Glaubensstätte ersten Ranges, drangen, sitzt tief. Durch die Umsicht der Feuerwehrkräfte konnte die Substanz des gotischen Gesamtkunstwerks erhalten bleiben.

Sehr zielgerichtet musste da Wasser eingesetzt werden, nicht zu viel, um den Sandstein zu bewahren, nicht zu wenig, um die Macht des Feuers zu zügeln. In Paris heißt es also „Brand aus“. Und in der katholischen Kirche insgesamt? Weltweit? Wie sehr brennt es da noch, Stichwort Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch Kleriker? Der vor allem von Priestern, unter ihnen selbst Kardinäle und Bischöfe, angerichtete Schaden ist evident. Noch nach Jahrzehnten leiden Opfer darunter. Für die Kirche geht der Schaden an die Substanz. Das Feuer ist nicht gelöscht.

Eine bemerkenswerte Rolle spielt der abgetretene Papst Benedikt XVI. Er hätte als Präfekt der Glaubenskongregation, später als Papst, das Feuer löschen müssen. Erst am Dienstag hat er in seiner Residenz Mater Ecclesia inmitten der Vatikanischen Gärten seinen 92. Geburtstag gefeiert. Papst Franziskus besuchte den Autor eines Aufsatzes über die wahren Hintergründe der Missbrauchskrise schon am Montag. Denn Joseph Ratzinger hat zuletzt dem staunenden Publikum enthüllt, dass die sexuelle Revolution von 1968 verantwortlich für Pädophilie zu machen sei. Frappierend und irritierend ist auch, wie selbstvergessen ein Mann seines Kalibers Täter mit Pädophilen gleichsetzt. Die Wissenschaft sagt, sofern nicht alles grundlegend missverstanden wurde, anderes.

Auch was den von Benedikt diagnostizierten angeblichen Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil betrifft, sind ihm beim zeitlichen Ablauf einige Dinge durcheinandergeraten. In Österreich stammen zwei Drittel der Fälle, die vor die Opferschutzkommission Waltraud Klasnics gebracht wurden, aus der Zeit vor dem Jahr 1970. Warum denkt, warum schreibt einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts an seinem Lebensabend Derartiges und lässt zu oder betreibt, dass es veröffentlicht wird? Weshalb bringt er sogar den Teufel ins Spiel, um vor der „Idee einer von uns selbst besser gemachten Kirche“ zu warnen?

Ein Verdacht regt sich. Der Verdacht, dass sich Benedikt – gleichgültig, wie oft er von diesem besucht wird – als letztes Bollwerk gegen den Nachfolger sieht. Als Bollwerk gegen ein Justieren der Sichtweise von Kirche und deren Wirken in der ganz realen, aktuellen, hochgradig dynamischen, unerfreulichen genauso wie erfreulichen Gegenwart – und eben nicht in einer stillstehenden, konservierten Gegen-, einer Parallelwelt.

Ex-Papst Benedikt will wahrscheinlich – nicht aus Bösartigkeit, sondern aus persönlicher Sorge – verhindern, dass es zum Äußersten kommt. Dass Franziskus lang unerhörte Wünsche nach Reformen erhört. Dass er das tut, was er mehrfach klarer oder verschwommen angedeutet hat. Dass Franziskus endlich gestattet, Frauen zu Diakoninnen, verheiratete Männer zu Priestern zu weihen. Dass in der Kirchenhierarchie nicht mehr exklusiv Männer das letzte Wort haben. Auch, wenn damit auf den ersten Blick nichts gewonnen erscheint.

Kirchen, die längst zwei Schritte weiter sind, klagen gleichfalls über einen Mangel an Seelsorgern. Es wäre naiv, mit rasant steigenden Zahlen der Messbesucher zu rechnen. Aber die katholische Kirche wäre nach heutigem Empfinden näher an der Botschaft jenes Mannes, dessen Schicksals in der Karwoche und zu Ostern besonders gedacht wird.

Der Brand in Paris mag manches Urteil über Franziskus revidieren. Um die Analogie zu Ende zu führen: Auch der Papst muss entschieden, aber mit Bedacht Flammen löschen. Teile aufgeben, um die Substanz zu retten. Ähnlich, wie ein Löschflugzeug über Paris mehr Schaden als Nutzen angerichtet hätte, hätten jähe Reformen gewirkt. Daher die Langsamkeit und Vorsicht, auch wenn sie nerven. Die Zeit könnte bald reif sein.

E-Mails an: dietmar.neuwirth@diepresse.com-

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2019)

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