Die Geduld mit Erdoğan muss ein Ende haben

Turkey's President Recep Tayyip Erdogan arrives to pay his respects at a convoy carrying remains of the Srebrenica genocide victims, in Sarajevo
Turkey's President Recep Tayyip Erdogan arrives to pay his respects at a convoy carrying remains of the Srebrenica genocide victims, in SarajevoREUTERS
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Seit dem Putschversuch vor drei Jahren hat der Autokrat von Ankara Zehntausende Gegner willkürlich einsperren lassen. Umso widersinniger ist es, dass die EU immer noch „Vorbeitrittshilfen“ zahlt.

Die Langmut, die Europas Umgang mit dem türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, prägt, grenzt an Realitätsverweigerung. Seit in der Nacht auf den 16. Juli2016 ein Putschversuch gegen ihn gescheitert ist, hat der Möchtegernsultan in fortschreitendem Cäsarenwahn die Reste so ziemlich aller Freiheiten eingeschränkt, die einen demokratischen Rechtsstaat ausmachen.

In der Türkei regiert die Willkür, die Justiz springt wie ein Schoßhündchen auf Zuruf aus dem Präsidentenpalast. Die anhaltenden Säuberungsaktionen haben jedes Maß verloren. Zehntausende Menschen – Richter, Polizisten, Soldaten, Journalisten, Oppositionelle – sitzen in Haft, weil ihnen Kontakte zum Prediger Fethullah Gülen, dem angeblichen Drahtzieher des misslungenen Umsturzes, nachgesagt werden oder weil sie dem schnell beleidigten Präsidenten sonst irgendwie missfallen. Seit drei Jahren begleicht Erdoğan alte Rechnungen und lässt Gegner unter fadenscheinigen Gründen einlochen.

Trotzdem zahlt die EU der Türkei immer noch Vorbeitrittshilfen, als könnte ein nach Erdoğans Gutsherrenart regiertes Land je Mitglied der Union sein. Die Mittel sind zwar angesichts der Vorgänge am Bosporus für den Zeitraum von 2018 bis 2020 um 40 Prozent gekürzt worden. Es soll dennoch gut eine Milliarde Euro fließen, um die Türkei EU-fit zu machen. Das ist widersinnig. Ein Staat, der die Kopenhagener Aufnahmekriterien derart mit Füßen tritt, hat auch im Vorzimmer der EU nichts verloren. Doch Europa zahlt weiter – und legt Milliarden aus dem Flüchtlingsabkommen noch obendrauf.


Abgedriftet. Am Montag könnten die EU-Außenminister die Vorbeitrittshilfen weiter kürzen, aber nicht, weil sich Erdoğan in der Türkei aufführt wie ein Tyrann, sondern, weil er vor der Küste Zyperns illegal nach Gas bohren lässt. Der türkische Staatschef lässt keine Gelegenheit aus, um sein Land vom Westen loszulösen. Mit dem Kauf eines russischen Flugabwehrsystems ist er gerade dabei, die Türkei aus der Nato zu sprengen. US-Sanktionen werden unweigerlich die Folge sein. Das könnte der türkischen Wirtschaft, die mit einer akuten Währungs- und Inflationskrise ohnehin im Sauerstoffzelt nach Luft ringt, die Kehle zuschnüren. Doch Erdoğan hofft auf Milde.

Am liebsten hätte er auch die Bürgermeisterwahl von Istanbul gestohlen, doch der Schuss ging nach hinten los: Der Oppositionskandidat gewann nach Annullierung des Urnengangs auch beim zweiten Mal. Das gibt Hoffnung. Sogar in der Regierungspartei AKP machen sich Abspaltungstendenzen bemerkbar. Das System Erdoğan ist letztlich auf Sand gebaut, auch demografisch: Die Jugend zieht nicht mit, sie ist trotz Islamisierungskampagnen säkularer geworden.

Europa und die USA sollten den Erosionsprozess beschleunigen, indem sie Erdoğans Achillesferse treffen. Sowohl im Streit mit Wladimir Putin um ein abgeschossenes russisches Flugzeug über Syrien als auch im Tauziehen um einen inhaftierten US-Pastor mit Donald Trump hat sich gezeigt: Erdoğan reagiert auf ökonomischen Druck. Es ist Zeit, dass die EU ihre unerwiderte Geduld aufgibt und Erdoğan den Finanzhahn zudreht.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2019)

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