Ohne gemeinsame Sprache keine gemeinsame Sache

Wenn Staaten wirklich „imaginierte Gemeinschaften“ sind, wie es der Politikwissenschaftler Benedict Anderson behauptete, dann brauchen sie eine Sprache, in der sie den Erzählfaden ihrer gemeinsamen Geschichte spinnen können.
Wenn Staaten wirklich „imaginierte Gemeinschaften“ sind, wie es der Politikwissenschaftler Benedict Anderson behauptete, dann brauchen sie eine Sprache, in der sie den Erzählfaden ihrer gemeinsamen Geschichte spinnen können. (c) imago images / Steinach (Sascha Steinach via www.imago-images.de)
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Solang die Europäer nicht mit einer Zunge sprechen, wird der Traum von der europäischen Republik nur ein Traum bleiben.

Von außen betrachtet wirkt das Europaviertel in Brüssel wie das Paradies der Vielsprachigkeit: überall emsige, hoch intelligente Menschen im Alter zwischen 18 und 80, die mindestens drei Sprachen fließend und zwei weitere rudimentär beherrschen, außerdem eine Handvoll Aperçus in Hindi, Mandarin und Farsi im Repertoire haben, um jede Cocktailparty in Schwung zu bringen, und zu guter Letzt in Thai und Tagalog fluchen können. Eingebettet ist dieses multilinguale Arkadien in eine europäische Metropole, in der Französisch, Flämisch und Englisch mit voller Selbstverständlichkeit gesprochen werden. Angesichts dieses bunten Treibens fühlt man sich ins mythisch verklärte Czernowitz zurückversetzt, in dem – so will es jedenfalls die Legende – ein Müllmann in sechs Sprachen kommunizieren musste, um seinem Beruf nachgehen zu können.

Was wie ein Zerrbild wirkt, entspricht durchaus der Realität – einerseits. Denn jene Menschen, die ihren Berufsalltag zwischen EU-Kommission, Europaparlament, Rat und dem Ausschuss der Regionen verbringen, tun dies, eben weil sie ein offenes Ohr und Interesse für Sprachen haben. Ihre Anwesenheit in Brüssel ist das Ergebnis einer natürlichen Selektion in den 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union: Sie sind eine auf internationale Kommunikation getrimmte Verwaltungselite. Und diese Beschreibung ist keineswegs abschätzig gemeint, denn um die größte Maschine zur Schaffung von Wohlstand und Frieden – den gemeinsamen Binnenmarkt – am Laufen zu halten, reicht eine Sprache bei Weitem nicht aus.

Andererseits hat die in der belgischen Hauptstadt gelebte Vielsprachigkeit relativ wenig mit der politischen Realität außerhalb der Stadtgrenzen zu tun. Im Gegenteil: Der Graben zwischen Flamen und Wallonen ist und bleibt tief. Als US-Präsident Donald Trump vergangene Woche mit dem Kaufangebot an Grönland aufhorchen ließ, schlug ihm die Parteijugend der nationalistischen flämischen Rechtspartei NV-A einen anderen Deal vor: Trump möge doch stattdessen die frankofone Wallonie kaufen, die flämische Nationalisten als Last empfinden. Und zwar um einen Euro.

Wenn Staaten wirklich „imaginierte Gemeinschaften“ sind, wie es der Politikwissenschaftler Benedict Anderson behauptete, dann brauchen sie eine Sprache, in der sie den Erzählfaden ihrer gemeinsamen Geschichte spinnen können. Das gilt umso mehr für Republiken, in denen das gemeinsame Lenken der Staatsgeschäfte als namensgebende „öffentliche Sache“ (res publica) aller Bürger im Vordergrund steht. Dass die gemeinsame Sprache kein Garant für die gemeinsame Sache und kein Allheilmittel gegen Zwist und Bürgerkrieg ist, beweist die europäische Geschichte, deren blutiger Bogen von Auschwitz bis nach Srebrenica reicht. Und dass es sehr wohl mehrsprachige imaginierte Gemeinschaften geben kann, demonstriert die Schweiz. Doch die Sprache ist ein mentaler Kontaktklebstoff, der Menschen, die ansonsten wenig bis gar nichts miteinander zu tun haben, zusammenhält.


Womit wir wieder bei der EU angelangt wären, die ohne eine sprachliche Verankerung auskommen muss. In der Brüsseler Schaltzentrale ist die Verständigung unter den Ingenieuren der europäischen Integration kein Problem. Auf dem Weg zu einer europäischen Republik, die ihren Namen wirklich verdienen würde, sind die 24 Amtssprachen der Union ein formidables Hindernis. Ein echter Repräsentant dieser Republik müsste nämlich imstande sein, an einem Tag in der lettischen Provinz auf Lettisch über die lokalen Herausforderungen zu parlieren und am nächsten Tag an einem Stammtisch in der Algarve über die Probleme der portugiesischen Fischer zu plaudern.

Englisch als Europas Lingua franca ist zwar eine nützliche Krücke, doch um die Menschen in allen vier Ecken des Kontinents emotional zu erreichen, reicht eine gemeinsame Fremdsprache nicht aus. Auch dann nicht, wenn sie landauf, landab verstanden wird. Sie ist nämlich – wie der Name schon sagt – fremd. Und genau das sollte eine „öffentliche Sache“ nicht sein.

E-Mails an:michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2019)

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