Die Sage vom abtrünnigen Vorarlberg

Laut einer neuen Umfrage befürwortet eine Mehrheit im Ländle den „Anschluss“ an die Schweiz. Denkste ...

Dominique Baettig ist ein ziemlich kurioser Vogel. Der Abgeordnete der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei aus dem frankofonen Kanton Jura, Hobbyjäger und von Berufs wegen Psychiater sorgt mit sonderbaren Vorstößen in seiner Heimat immer wieder für Wirbel. Etwa, als er im Dezember im Parlament im Bern gefragt hat, welche Folgekosten der Schweiz denn durch „das Eindringen gebietsfremder Arten“ entstünden. Baettig meinte damit Ausländer.

Dann, Mitte Juni, eine weitere „Baettigiade“: Die Schweizer Bundesverfassung solle so geändert werden, dass mehrere Nachbarregionen ihren Beitritt zur Eidgenossenschaft beantragen könnten, etwa Baden-Württemberg, das Elsass, Savoyen, das Aosta-Tal, die lombardischen Provinzen Como und Varese – und Vorarlberg.

Während die Schweizer Regierung kühl auf Baettigs Vorstoß reagierte („eine Provokation“), wurde in den Onlinemedien der Zeitungen jener Regionen, die angesprochen waren, sofort heftig losdiskutiert. Die Züricher „Weltwoche“ schließlich wollte es genau wissen und ließ in vier Nachbarregionen abfragen, was die dortige Bevölkerung denn von einem „Anschluss“ an die Schweiz hielte. Und siehe da: Eine Mehrheit der befragten 1791 Wahlberechtigten befürwortete einen Beitritt zur Schweiz – wobei mit 52 Prozent Ja-Stimmen der Anteil in Vorarlberg (und Como/Varese) am höchsten ist. Seit der Bekanntgabe dieser Umfrageergebnisse quellen die Foren im Internet zwischen Bregenz und Wien erneut vor Postings über.

Auch in der kleinen Fraktion der Vorarlberger, die in der „Presse“-Redaktion arbeiten, ist sofort eine heftige Debatte darüber entbrannt, was denn von so einer solchen Umfrage zu halten sei, ob es tatsächlich eine historisch gewachsene und heute noch vorhandene starke Affinität der Vorarlberger zur Schweiz gebe, ob diese Affinität im Rheintal nicht viel ausgeprägter sei als etwa im Bregenzer Wald, und ob die Abneigung gegenüber den Österreichern hinter dem Arlberg wirklich so groß sei, dass man sich am liebsten den Eidgenossen in die Arme werfen würde.

Wer in den 1960er- und 1970er-Jahren in Vorarlberg aufwuchs, konnte der fast täglichen medialen Hetze gegen den „Wasserkopf Wien“ nicht entrinnen. Immer wieder wurde einem eingetrichtert, dass man in Vorarlberg viel besser wirtschafte und haushalte und „die Wiener“ den tüchtigen Vorarlbergern nur das teuer verdiente Geld abknöpften. So etwas prägt. Ende der 1970er-Jahre begegneten mir in Wien tatsächlich Vorarlberger Studenten, die jedes Wochenende mit dem Zug ins „Ländle“ fuhren, weil sie es in der Bundeshauptstadt angeblich nicht aushielten.

Anti-Österreich heißt in Vorarlberg vor allem Anti-Wien, wobei Wien für die 700Kilometer entfernte, abgehobene Zentrale steht, die die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Richtlinien für das ganze Land vorgibt. Wien selbst aber, die Stadt, die lieben die Vorarlberger. Man muss einmal erlebt haben, wie Landsleute, die zuvor unaufhörlich über „d' Wianar“ hergezogen sind, nach einem Besuch plötzlich begeistert und stolz auf ihre Bundeshauptstadt wieder heimgereist sind.

Gut, das sind persönliche Beobachtungen und keinesfalls analytische Befunde über das Verhältnis der Vorarlberger zu Wien/Österreich. Aber „Weltwoche“-Umfrage hin oder her: Das Bauchgefühl besagt, dass sich zwar bestimmt ein Teil der Vorarlberger gut vorstellen könnte, Bestandteil der Eidgenossenschaft zu sein, dass sich die Mehrheit aber nach wie vor in Österreich wohlfühlt.

Ganz bestimmt: Wirtschaftlich, steuerlich, überhaupt im bedächtigen Umgang mit finanziellen Dingen und auch demokratiepolitisch könnte sich Österreich von der Schweiz sehr, sehr viel abschauen – und genau dieser Wunsch spiegelt sich ja auch in der „Weltwoche“-Umfrage wider. Aber viele Vorarlberger kennen die Schweiz auch von innen sehr gut, kennen auch die Schattenseiten dieses Landes. Um ein wenig polemisch zu fragen: Warum hat die „Weltwoche“ beispielsweise nicht auch nachfragen lassen, was man in der Nachbarschaft denn so von der Schweizer Atompolitik hält, und ob man als Kanton Vorarlberg künftig auch als Standort für ein weiteres AKW bereitstehen würde?

Ja, es ist heiß, und in einer nachrichtenärmeren Zeit kommen solche Umfragen immer ganz gut. Man soll diese Dinge auch diskutieren – auch, ob es einem in einem anderen Land nicht (noch) besser gehen könnte. Ansonsten aber: Lassen wir doch bitte die Kirchen diesseits und jenseits des Rheins weiter im Dorf.

Anschluss-Diskussion in VorarlbergSeite 13


burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16. Juli 2010)

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