Nicht die vergangenen, die nächsten Tage werden entscheidend sein für die Zukunft des Nahen Ostens und des Rests der Welt. Wir sollten nicht zu wenig erhoffen.
Leitartikel
Und dann war er auf einmal weg. Ägypten ist seinen Diktator los, der vor 30 Jahren den Ausnahmezustand ausgerufen und nie wieder aufgehoben hat. Noch ist unklar, ob es sich bloß um einen Generationswechsel handelt oder um einen Regimewechsel. Ersteres wäre für die Potentaten, die sich in den vergangenen Jahrzehnten einträgliche Posten verschafft und Hausmachten aufgebaut haben, ein Zeitgewinn, aber eine Katastrophe für das Land, die Region und den Rest der Welt.
Denn der Aufstand hat gezeigt, dass dieses Land, das angeblich mangels geeigneter Strukturen und Traditionen nicht demokratisch geführt werden kann, auch nicht mit der diktatorischen Machtfülle des permanenten Ausnahmezustandes geführt werden kann. Eine Regierung, die Mubaraks Kurs – ein wenig rhetorisch behübscht und mit Goodwill garniert – weiterführt, würde zum Beispiel das Problem der islamistischen Opposition der Moslembruderschaft nur weiter verschleppen, aber nicht lösen. Bis der nächste Ausbruch des Volkszorns das Ganze noch weniger handhabbar macht. War Mubarak schon eine Gangart härter als sein Mentor Sadat, müsste der neue starke Mann noch einmal zulegen, um sich im Sattel halten zu können. Und dann käme die große Stunde der Mullahs.
Versteht sich Suleiman hingegen als ein Manager des Wandels, könnte zumindest einmal mit dem Aufbau erster demokratischer Traditionen begonnen werden. Natürlich bleibt die Frage, ob in einem Land wie Ägypten eine partizipatorische Herrschaftsform schon bald gelingen kann – aber es ist ja ziemlich deutlich, dass ihr Gegensatz auch nicht funktioniert hat. Die Mubarak-Diktatur hat ja nicht nur in der Politik den Wettbewerb ausgeschaltet, sondern – eine fast unausweichliche Folge – auch in der Wirtschaft und damit dem Volk echte Armut beschert. Sie hat zwar in den 1990er-Jahren die Moslembruderschaft weitgehend militärisch entwaffnet, die Bewegung aber weder aus dem zivilen Leben verdrängt, noch sie in die ägyptische Zivilgesellschaft eingebaut.
Ägypten hat nun die Chance, den langen Weg in eine freiere Gesellschaft zu gehen, die nicht nur den Wohlstand hebt, sondern der auch der Nachweis gelingt, dass religiöse Extremismen nicht nur durch Diktatoren in Schach gehalten, sondern sogar entschärft werden können. Ein Versuch, wie er im Irak allein schon durch die Präsenz der amerikanischen Militärmacht zum Scheitern verurteilt ist.
Die Defätisten im Westen werden nun aufstehen und anzweifeln, ob die Nation überhaupt sich selbst regieren könne. Dass nun Antiamerikanismus und Antisemitismus überschäumen werden. Dass also eine harte Hand immer noch das Beste für die da unten sei. Freiheit ist ja bloß ein schöner Wahn oder der zynische Name für den Wartesaal des nächsten Despoten.
Aber bei aller berechtigten Sorge über negative Konsequenzen der ägyptischen Revolution ist die hier so gern geäußerte Freiheitsskepsis bedenklich. Nicht die des Geostrategen, der vielleicht den Fall eines verlässlichen militärischen Bündnispartners bedauert. Aber die des normalen Bürgers, dem das Wagnis der Freiheit zu groß scheint, um sich auf ihre Seite zu stellen.
Nach den KZs und Gulags hat Europa noch ziemlich genau gewusst, dass Freiheit nicht ein philosophisches Konzept ist, sondern etwas Handfestes, das darüber entscheidet, ob man im Gefängnis sitzt oder nicht, und ob man geprügelt wird oder nicht. Seither sind wir etwas fett geworden, ist die Freiheit mit ihren ungewissen Ausgängen und ihren möglicherweise falschen Entscheidungen unbequem.
So finden wir es schon fein, wenn anderswo die Sklavenhalter wenigstens auf unserer Seite sind. Und findet sich im eigenen Land mit einer schleichenden Deliberalisierung durch allerlei Sprech-, Denk- und Handlungsverbote ab, solange nur niemand gekränkt ist und es alle schön haben – Sklaven ohne Herren (nach einem Wort des demokratiekritischen Philosophen Nicolas Gomez Davíla).
Auch darum wäre ein Sieg der Freiheit in Ägypten so wichtig: um uns wieder einmal vor Augen zu führen, was sie Großes vermag. Seiten 1–5
E-Mails an: michael.prueller@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2011)