Die türkischen Parlamentswahlen werfen ein Licht auf das Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen der Türkei und Europa. Es besteht akuter Anpassungsbedarf.
Recep Tayyip Erdoğan nehme sich der russische Ministerpräsident Wladimir Putin wie ein machtpolitischer Anfänger aus, erklärte mir diese Woche der ehemalige Chefredakteur einer großen türkischen Zeitung. Sein Land nehme immer deutlicher autokratische Züge an, und würde die gemäßigt-islamistische AKP an diesem Wochenende wieder mit einer absoluten Mehrheit ausgestattet, dann würde es für unabhängige Geister in der Türkei noch enger. Schon jetzt sind ja in keinem demokratischen Land der Welt mehr Journalisten inhaftiert als in Erdoğans Türkei.
Ist die Türkei also eine Demokratie? Muss wohl so sein, denn es ist unvorstellbar, dass die Europäische Union Beitrittsverhandlungen mit einer Nichtdemokratie beginnt. Das zentrale Argument der Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei – Joschka Fischer wurde nicht müde, es zu wiederholen – lautet: Wenn es gelinge, am Beispiel Türkei zu zeigen, dass Islam, Demokratie und europäische Werte vereinbar seien, dann habe man den Schlüssel zur Vermeidung des „Kampfes der Kulturen“ gefunden.
Wahr ist, dass die Türkei seit Atatürks großem Wurf ein laizistischer Staat ist. Allerdings wurde dieser Laizismus durch eine latente militärische Drohung durchgesetzt. Mit der Zurückdrängung des Militärs ging die Renaissance des Religiösen in der türkischen Öffentlichkeit einher. Ob es zwischen dem militärisch erzwungenen Laizismus und der Renaissance des politischen Islam einen Mittelweg gibt, ist offen. Die AKP ist unter Erdoğan ideologisch weniger strikt geworden. Allerdings scheint es zunehmend so zu sein, dass der amtierende Ministerpräsident jenes Maß an Autorität, das er der Religion nicht zugestehen will, für sich selbst in Anspruch nimmt.
Die Türkei hat sich unter Erdoğan zur regionalen Ordnungsmacht entwickelt, ohne die nichts geht, wirtschaftlich nicht und sicherheitspolitisch nicht. Die Idee österreichischer Politiker, durch hinhaltenden Widerstand gegen die Beitrittsverhandlungen daheim punkten und Einfluss auf die Entwicklungen am Bosporus nehmen zu können, wurde bald von der Realität korrigiert.
Dass türkische Politiker nach wie vor relativ unleidlich werden, wenn es darum geht, ob ihr Land der EU beitreten darf, hat nichts mit dem sehnlichen Wunsch, endlich als brave Europäer akzeptiert zu werden, sondern ausschließlich mit einer besonderen Spielart des kulturellen Stolzes zu tun. Man erträgt es schwer, dass es in Westeuropa Politiker und Nationen gibt, die sich der Türkei zivilisatorisch überlegen fühlen. Im Übrigen steht man aber auf dem Standpunkt, dass in der Zwischenzeit die EU die Türkei mehr braucht als die Türkei die EU. Und so ist es wohl auch.
Die prinzipiellen Einwände, die es gegen einen EU-Beitritt der Türkei gibt, sind und bleiben plausibel: Ein Beitritt würde die europäischen Institutionen überfordern, Menschenrechte, Pressefreiheit, rechtsstaatliche Prinzipien entsprechen noch immer nicht den europäischen Standards. Doch letztlich ist die Frage nicht, ob man die Türkei dazu zwingen kann, massive Korrekturen am Status quo vorzunehmen. Die Frage ist, ob und wie lange sich Europa diese Art von abendländischem Kultursnobismus leisten kann und will.
Österreicher und Europäer müssen versuchen, ihr Verhältnis zu Ankara neu zu definieren. Man hat es nicht mit einem Bittsteller zu tun, der alles tun wird, um endlich der Europäischen Union beitreten zu dürfen, sondern mit einer Regionalmacht, die sicherheitspolitisch nicht viel weniger Gewicht hat als die Union und wirtschaftlich über eine Dynamik verfügt, von der die Europäer nur träumen können. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass, aber auch immer unwichtiger, ob die Türkei der EU beitritt oder nicht.
Die Position vieler europäischer Regierungen, auch der österreichischen, im Umgang mit der Türkei ist so schwach, weil mit verdeckten Karten gespielt wird. Es geht immer nur um die Bedienung kulturell-religiös grundierter, antitürkischer Ressentiments in den eigenen Ländern. Die Türken aber machen richtige Politik. Barack Obama, Benjamin Netanjahu und Zentralasien spielen dabei eine Rolle. Michael Spindelegger und Ursula Plassnik eher nicht.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2011)