Vereinigte Staaten brauchen die Zustimmung ihrer Bürger

Angesichts der Eurokrise entsteht eine neue Dynamik in Richtung europäische Staatlichkeit von oben. Das könnte das Ende des europäischen Projekts bedeuten.

Deutschland scheint seinen Widerstand gegen eine Umwandlung der Europäischen Union vom Staatenbund zum Bundesstaat aufzugeben. Angela Merkel ist eben eine Pragmatikerin, und von einem pragmatischen Standpunkt aus gesehen ist der Ausbau des supranationalen Gebildes EU zu einem staatlichen Gebilde die einzige Alternative zum Ende des Euro, wie wir ihn kennen.

Wer am Euro als gemeinsamer Währung möglichst aller EU-Mitgliedstaaten unabhängig von ihrer volkswirtschaftlichen Konstitution festhalten will, muss dafür sorgen, dass man all das, was man auf dem Weg zur gemeinsamen Währung versäumt hat, jetzt nachholt. Das ist im Kern eine gemeinsame, aus der Kompetenz der Mitgliedstaaten herausgelöste Wirtschafts- und Fiskalpolitik als Grundlage für eine Haftungsgemeinschaft in Form von gemeinsamen Staatsanleihen (Eurobonds). Für die stabilitätsorientierten Länder des Nordens wird das zu einer massiven Erhöhung ihrer Finanzierungskosten führen. Aber die Pragmatikerin Angela Merkel weiß, dass auch die Alternative, die Neuformation einer gemeinsamen Währung für jene Staaten, die bereit und in der Lage sind, die Stabilitätskriterien einzuhalten, mit hohen Restrukturierungskosten verbunden ist.

Das Grundsätzliche ist nicht die Domäne der deutschen Kanzlerin, aber das unterscheidet sie nicht substanziell von ihren Kolleginnen und Kollegen, die derzeit im Europäischen Rat den Ton angeben. Hier liegt das Problem: Die neue Dynamik in Richtung der Vereinigten Staaten von Europa ist nicht das Ergebnis grundsätzlicher Erwägungen und eines breiten Diskurses unter den Bürgern jetzt noch souveräner Mitgliedstaaten samt einem demokratischen Entscheid über die europäische Zukunft, sondern die Panikreaktion von Politikern, die sehen, dass sie hoch gepokert und verloren haben.

Ein grundsätzliches Gespräch über die wünschbare gemeinsame Zukunft der europäischen Staaten hätte vor allem die Frage zum Inhalt, ob die weitgehende Delegation der staatlichen Souveränität an zentrale Institutionen in Brüssel tatsächlich „mehr Europa“ bedeutet – oder ob nicht im Gegenteil der Kern der politischen Ideengeschichte des Kontinents darin liegt, Vielfalt und Wettbewerb als wesentliche Antriebskräfte für die Weiterentwicklung von Politik, Ökonomie und Kultur zu verstehen.

Man kann dagegen einwenden, dass dieser Wettbewerb immer schon den Keim der kriegerischen Auseinandersetzungen trug, die den Kontinent so oft verwüstet haben, und dass die einzig denkbare Krönung des „Friedensprojekts“ Europäische Union darin liege, das im Wege eines gemeinsamen Staates ein für allemal zu verhindern. Dann müsste man aber auch in Erwägung ziehen, dass die blutigsten Auseinandersetzungen der jüngeren Vergangenheit innerhalb von Staaten ausgetragen wurden, die gegen den Willen ihrer Bürger als „Friedensprojekte“ von oben installiert wurden.


Keine Frage: Die Vision einer Europäischen Republik, eines europäischen Bundesstaates, dessen Bürger ihre regionalen und nationalen Identitäten in einem bewusst gewählten größeren Ganzen unaggressiv leben, verfügt über große Kraft. Wären in den europäischen Staaten Politiker am Werk, die mit ihren Bürgern ein Gespräch über Europas Zukunft eröffnen, würde eine europäische Verfassung, die diesen Namen verdient, erarbeitet und den Bürgern zur Abstimmung vorgelegt, dann hätte das Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ eine Chance. Es wäre nicht leicht, die vielen zu überzeugen, die Angst vor einem Brüsseler Moloch haben, aber es wäre möglich – und es wäre der Mühe wert.

Aber diese Vision steht derzeit nicht zur Debatte. Was sich jetzt abzeichnet, ist die panikartige Flucht nach vorn, von Pragmatikern, die mit ihrem pragmatischen Latein am Ende sind. Es ist zu befürchten, dass mit dem Argument, die einzige Alternative seien Chaos und Untergang, Vereinigte Staaten von Europa ohne die Zustimmung der europäischen Bürger entstehen.

Das, und nicht ein Scheitern des Euro, wäre das endgültige Ende des europäischen Projekts.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2012)

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