Londons Verrat am Liberalismus

Theresa May verabschiedet sich vom jahrzehntelangen Kurs ihres Landes.

Großbritannien hat seit 44 Jahren den europäischen Binnenmarkt forciert. Er sollte von Beginn an Kernelement der EU-Mitgliedschaft werden. Ob Thatcher, Major, Blair oder Cameron – sie alle widersetzten sich deutsch-französischen Plänen für eine politische Union. Sie folgten der liberalen Tradition: Allein ein offener, wettbewerbsorientierter europäischer Markt für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitnehmer sollte den Wohlstand in Europa erhöhen und auch die Insel wieder aus der ökonomischen Versenkung holen.

Eigentlich ist all das gelungen: Großbritannien hat seit dem Beitritt 1973 seine Wirtschaftskraft deutlich erhöht. Das Bruttoinlandsprodukt stieg bis heute um das 23-Fache, die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Nun nimmt die britische Premierministerin, Theresa May, von diesem Erfolgskurs Abschied – nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern aus rein politischen: weil die eigene Bevölkerung die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt nicht goutiert, weil die Angst vor Zuwanderern steigt.

Der radikale britische Wirtschaftsliberalismus hat speziell auf dem Finanzmarkt ein pervertiertes System begünstigt. Er hat Blasen und abseits jeder Leistungsgerechtigkeit Gewinner und Verlierer produziert. Aber er war auch eine gesellschaftliche Orientierung, denn er stellte die Freiheit des Einzelnen über nationale Interessen und schuf damit Grundlagen für Unternehmertum und individuelle Selbstverwirklichung.

Die britische Regierung opfert nun dieses Modell, um sich von EU-Marktregeln, von der EU-Wettbewerbskontrolle und den konkurrierenden EU-Arbeitnehmern zu verabschieden. May verbreitet die Illusion, dass eine Marktteilnahme möglich ist, bei der London selbst die Regeln bestimmt und kontrolliert. Doch es dürfte anders kommen.

Um sich in einer globalisierten Welt über Wasser zu halten, wird die Insel zahlreiche Kompromisse bei Freihandelsabkommen eingehen müssen. Sie wird sich als Steuerparadies, als Singapur Europas, positionieren müssen, um noch Geschäfte anzulocken. Sie wird ein Platz werden, an dem nicht Leistung, sondern Kapital zählt – aus welchen dunklen Kanälen es auch kommen mag. Mehr Freiheit wird das nicht bringen, sondern neue Abhängigkeiten und eine weitere Abkehr von der wettbewerbsorientierten Realwirtschaft – der stabilsten Basis jeder Volkswirtschaft.

wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2017)

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