Hat Wien bereits zu viele Erinnerungsmale an Nazi-Opfer?

Die neue Gedenkmauer lässt Überfütterung befürchten, weil der Geschichtsunterricht allgemein krankt.

Nun ist also (auf gemeinsamen Antrag der beiden Regierungskollegen Sebastian Kurz und H.-C. Strache) der Beschluss für die nächste Gedenkmauer gefallen, auf welcher die Namen von in Österreich und vor allem in Wien im Krieg verschwundenen oder umgekommenen (was ungefähr auf das Gleiche herauskam) Juden und Jüdinnen verzeichnet werden sollen. Es sind viele Zehntausende gewesen. Wien hat diesbezüglich das abzutragen, was viele eine Ehrenschuld nennen.

Das Mahnmal soll, wie es heißt, auf dem Schmerlingplatz entstehen, unweit des Parlaments, was der Bevölkerung gleichsam einen Daumen aufs Auge drücken würde: Seht, was die Nazis an Verbrechen während der „Anschluss“-Zeit alles begangen haben – als es sieben Jahre lang kein freies Österreich gegeben hat!

Ich bin dagegen. Ich finde, dass allein in Wien bereits etliche Denkmäler an die Judengräuel erinnern. Warum Kurz und Strache ein weiteres planen wollen, ist mir unklar. Müssen wir, vor allem jene österreichischen Menschen, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, also in der sogenannten Systemzeit, geboren worden waren, Angst haben, an politisch mörderischer Überfütterung zu leiden? Als Enkel eines Juden – der Gott sei Dank bereits 1936 friedlich gestorben war und daher nicht deportiert oder umgebracht wurde – und als Sohn einer Halbjüdin, wie es die Nazis ausdrückten, wage ich zu behaupten: Zu viel ist zu viel.

In einer Zeit, da Volksschulen und die sogenannten Neuen Mittelschulen (die etwa einem Teil der früheren Hauptschulen entsprechen) zum Teil, ja fast überwiegend von Buben und Mädchen besucht werden, die nicht über unser Kulturgut verfügen, scheint es mir genug, in Wien etliche Denkmäler zu haben, die an die Morde von Nazi-Gegnern erinnern sollen. Das prominenteste Erinnerungsmal ist jenes auf dem Judenplatz, auf den unterirdischen Resten einer Synagoge errichtet. Ein anderes sind die Steinstufen eines Denkmals auf dem Ballhausplatz, das für die Opfer der NS-Militärjustiz und der Politwiderständler gebaut wurde.

Am skurrilsten ist die Figur eines knienden Juden, den straßenreinigenden Verhafteten nachempfunden. Um zu vermeiden, dass er, was immer wieder geschah, meist von fernöstlichen fotografierenden Touristen als Aussichtspunkt gewählt wurde, ist er mit Stacheldraht bedeckt. Er ist Teil des umstrittenen Hrdlicka-Denkmals – gegen Krieg und Faschismus, das auf den Resten eines öffentlichen Luftschutzkellers errichtet wurde. Unter dem Straßenniveau liegen heute noch Dutzende Leichen, die nie geborgen wurden. Meine Maturaklasse im Akademischen Gymnasium hat dafür gesorgt, dass noch sehr lang vor der Errichtung des Hrdlicka-Mals ein einfaches Holzkreuz an diese Tatsache erinnert.

Aber wer kennt schon die vielen Denkmäler im Stadtpark, wer alle diese Erinnerungsmale in Wien, wer die unzähligen Gedenktafeln? Das Wissen um Fakten der Wiener Kulturgeschichte und vor allem um jene, deren Monumente oder Kopfplastiken im Stadtpark und seiner Umgebung schon vor vielen Jahren eingeweiht worden sind? Einst waren Parkanlagen wie die großen in der Innenstadt nebst allem anderen auch Geschichte zum Anfassen. Heute führen der Geschichtsunterricht und vor allem der künstlerische in den Schulen, auch in den Gymnasien, ein Stiefmutterdasein. Allein: Es kann nur besser werden. Hoffentlich bald.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2018)

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