Es ist alles schon so kafkaesk geworden in der Türkei

Erdoğan
Erdoğan APA/AFP/ADEM ALTAN
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Fassen Sie ein Buch über Erdoğan zusammen! Wegen Präsidentenbeleidigung muss ein Mann 24 Bücher lesen - das ist seine offizielle Strafe.

Im Kaffeehaus, im vergleichsweise ruhigen Stadtteil Maltepe in Istanbul, soll es passiert sein: Ein 75-jähriger Mann habe hier den türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, schwer beleidigt. Das wirft ihm jedenfalls die Justiz vor, er selbst sagt: „Das stimmt nicht, so etwas kam nicht vor.“ Nach der ersten Einvernahme wurde er auf Bewährung freigelassen – und nun steht seine Strafe fest. Er muss 24 Bücher lesen und der Justiz eine Zusammenfassung von jedem einzelnen Werk übermitteln. Nein, das ist kein Scherz.

Die Bücherliste selbst ist, sagen wir, interessant. Ganz oben stehen die Erzählungen des spätosmanischen Schriftstellers Ömer Seyfettin, ein bekannter Vertreter der türkischen klassischen Literatur. Weitere Klassiker sind die Kurzgeschichten von Rumi – der Sufi-Mystiker des 13. Jahrhunderts –, sowie die Fabeln von Beydebâ (eigentlich Vishnu Sharma). Mit Dostojewski („Schuld und Sühne“) und Tolstoi („Wie viel Erde braucht der Mensch?“) sind zwei große Russen vertreten. Eine Einführung in den Islam des indischen Gelehrten Muhammed Hamidullah findet sich ebenfalls auf der Leseliste.

Jene Marathonrede des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, die er im Jahr 1927 fünf Tage lang bei seiner Parteiversammlung hielt, muss der Mann ebenfalls lesen; die Rede in Buchform heißt „Nutuk“ und gilt als identitätsstiftendes Moment für die moderne Republik.

Die Prozesse hören nicht auf

Und weiter: Eine Ausführung über den Koran, ein Buch über den Schwiegersohn Mohammeds, Ali. Des Weiteren finden sich „Islam zwischen Ost und West“ des ehemaligen bosnischen Präsidenten, Alija Izetbegović, auf der Liste, sowie ein Buch des französischen Politikers und Holocaustleugners, Roger Garaudy. Selbstverständlich dürfen nicht fehlen: Eine Biografie über Erdoğan („Geburt eines Anführers“), eine Publikation über den gescheiterten Putschversuch 2016 sowie ein Abriss über die Schlacht von Gallipoli/Çanakkale; 1915 besiegten hier die osmanischen Truppen unter Mustafa Kemal die Entente-Mächte. Und das letzte Buch auf der Liste? „Farm der Tiere“ von George Orwell.

Diese kuriose Strafe und die Buchliste zeigen gut auf, wie sich die türkische Regierung unter Erdoğan die Bildung und das Wissen ihrer Bürger vorstellt: Grundwissen über den Islam samt Mystik, Grundwissen über die Entstehung der türkischen Republik, die Lehre über Moral und Gehorsamkeit, die Abkehr von Überfluss. Das ist ja alles nicht a priori schlecht. Aber das Problem ist erstens, dass die Behörden die Bücherliste als ein Diktat präsentieren, keineswegs als eine Einladung dafür, sich mit ebendiesen Themen historisch-kritisch auseinanderzusetzen. Übernimmt die Justiz nun die Bildungspolitik im Auftrag der Regierung?

Und zweitens geht die Strafverfolgung in der Türkei jeden einzelnen Tag weiter. Es sind Schauprozesse über vermeintliche Beleidigungen, über angebliche Terrorpropaganda. Jeden einzelnen Tag müssen sich Akademiker, Journalisten oder Anhänger des Predigers Fethullah Gülen vor Gericht verantworten, auch wenn mitteleuropäische Medien nicht mehr ausführlich darüber berichten wie noch vor ein, zwei Jahren.

Es ist alles schon derart kafkaesk geworden, dass Kafka auf der Straf-Bücherliste gar nicht zu erscheinen braucht.

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