Der scheinheilige Herr Szájer

Ein enger Vertrauter von Ungarns Ministerpräsident Orbán genießt in Brüssel jene gesellschaftliche Offenheit, die seine Partei in Ungarn ersticken will - und pfeift dabei auf die Corona-Vorschriften, die doch für alle Bürger gelten.

Eigentlich sollte es völlig belanglos sein, was der ungarische Europaabgeordnete József Szájer unter seiner Bettdecke beziehungsweise bei intimen Soiréen treibt (und mit wie vielen anderen Erwachsenen beiderlei Geschlechts er das zu tun beliebt). Wir leben im Jahr 2020, und auch wenn die nationalautoritäre Partei Fidesz, zu deren führenden Köpfen er seit Jahrzehnten zählt, dies anders sehen mag, ist sexuelle Selbstbestimmung heute in Europa Teil jener unveräußerlichen Bürgerrechte, auf deren Schutz sich die Europäische Union mit Recht viel einbilden darf.

Aber sie ist eben doch belangreich, und eine politische Sache, diese skurrile Eskapade des Herrn Szájer in der Nacht auf vergangenen Samstag, als eine von Rauschgift befeuerte Sexparty mit etwa 25 anderen Männern im Zentrum Brüssels von der Polizei gesprengt wurde und Szájer sich durch eine Kletteraktion über die Regenrinne dem behördlichen Zugriff zu entziehen versuchte. Das liegt vordergründig daran, dass hier einer der Gründer der nationalautoritären ungarischen Partei Fidesz eine höchstpersönliche Neigung an den Tag legt, die seine Partei zu ächten versucht. Das ist zynisch. In ihrem Furor gegen die offene Gesellschaft, den Liberalismus und die Aufklärung versteigt sich die ungarische Regierung in krause Hirngespinste über angebliche dekadente Verschwörungen gegen das ungarische Familienheil. In ihrem jüngsten Verfassungsentwurf will sie es explizit verbieten, dass gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren dürfen: als könnten Homosexuelle keine liebevollen, guten Eltern sein. Und sie will den Aufklärungsunterricht in den Schulen derart einschränken, dass sexuelle Minderheiten gar nicht vorkommen. Das ist grausam, wenn man daran denkt, welche Qualen Jugendliche, die nicht heterosexuell sind, oft durchleiden müssen, und wie überproportional hoch ihre Selbstmordrate ist.

Vor allem aber ist dieses spektakuläre Ende der politischen Laufbahn eines der engsten Vertrauten von Ministerpräsident Viktor Orbán bedeutsam, weil Szájer eine atemberaubende Scheinheiligkeit unter Beweis stellt. Nicht die Sexparty war illegal. Sondern der Umstand, dass sie während der strengen belgischen Ausgangseinschränkungen stattfand (ob er selber Rauschgift konsumiert hat, ist vorerst offen). Diese Regeln erlauben seit Wochen bloß den privaten Besuch einer einzigen Person, die nicht im selben Haushalt lebt. Feiern jeglicher Art sind verboten. Szájer und dem Vernehmen nach mehrere Diplomaten vorläufig unbekannter Herkunft meinten, über dieses Gesetz erhaben zu sein. Sich dann auch noch auf parlamentarische beziehungsweise diplomatische Immunität berufen zu wollen, um der verwaltungsbehördlichen Verfolgung zu entgehen, legt eine schwindelerregende Dreistigkeit zu Tage. Wie schrieb Szájer selbst noch am 13. November auf der Website der ungarischen Regierung, als er das Begehr der EU nach Rechtsstaatlichkeit in Ungarn geißelte? „Keine doppelten Standards. Das Parlament ist keine Ausnahme!“ Recht hatte er - wenn auch nicht so, wie er es beabsichtigt haben dürfte.

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