Verletzlich aus eigener Schuld: Lehren aus einer Katastrophe

Im Wahlkampf hat Präsident Obama den „Aufbau der Nation“ versprochen – und nicht den Irak oder Afghanistan gemeint, sondern das eigene Land. Er kann damit sofort beginnen. Mit der Infrastruktur.

Die Diskrepanz zwischen Politik und Realität in dieser Woche an der Ostküste der USA lässt sich kaum begreifen, geschweige denn erklären – vernünftig, jedenfalls. Das trifft auch auf den Kontrast zwischen Medien und Wirklichkeit zu.

Auf der einen Seite im Schatten vor und nach der Präsidentschaftswahl am Dienstag das Mantra der Politiker von Barack Obama abwärts, die USA seien das „beste Land der Welt“. Auf der anderen Seite die Wirklichkeit einer aus eigener Schuld so verletzbaren Großmacht; die Wirklichkeit von hunderttausenden Menschen, die eine Woche nach dem Hurrikan „Sandy“ noch immer ohne Stromversorgung und daher bei dem Schneesturm Mitte der Woche ohne Licht, ohne Heizung und ohne Benzin waren.

Die antiamerikanischen Einträge während der Tage der Verwüstung durch den Hurrikan im Internet in Österreich waren zwar völlig jenseitig und zudem aus Anlass einer Naturkatastrophe völlig unangebracht, aber eine Frage ist schon erlaubt: Wieso schafft es das „beste“ Land der Welt nicht, binnen Tagen die Versorgung der Menschen wieder zu gewährleisten, die Stromleitungen zu reparieren, wenigstens eine Notversorgung sicherzustellen? Wieso bricht die Benzinversorgung in den verwüsteten Städten und Dörfern in New Jersey so gänzlich zusammen, dass auch mehr als eine Woche nach dem Sturm Benzin rationiert werden muss und Tankstellen selbst in New York City das große Schild „No gas“ anbringen?

Es kann für die verantwortlichen Politiker doch nicht wirklich eine Überraschung sein, dass viele ihrer Wähler ihre Häuser mit Generatoren beheizen und daher auf Benzin angewiesen sind. Menschen in langen Schlangen mit Kanistern vor den Tankstellen machen sicher nicht das beste Land aus.

Und bei der tagelangen Vorbereitungszeit auf „Sandy“ hätte das beste Land der Welt nicht auf die Tanker angewiesen sein dürfen, die wegen des Sturms die Häfen der Ostküste nicht mehr erreichten. Ein Land, das so sehr von Öl abhängig ist, wird von dieser Situation so überrascht, dass die Miliz geholt werden muss! Oder von einem ebenfalls tagelang angekündigten Schneesturm so sehr, dass der Flughafen JFK nach einigen Stunden keine Flüssigkeit mehr hat, mit der die Flugzeuge enteist werden können?

Die einzig halbwegs einsichtige Erklärung liegt in der vernachlässigten, veralteten Infrastruktur. Jetzt müssen sich Politiker beider Richtungen – als Lehre aus der Katastrophe – zusammensetzen und ein Investitionsprogramm zur Behebung der schlimmsten Mängel ausarbeiten.

Präsident Barack Obama hat im Wahlkampf immer wieder vom „nation building“, vom „Aufbau der Nation“ zu Hause gesprochen. Darauf müssen die Menschen in Staten Island, New Jersey und anderswo warten. Nicht weniger verblüffend war die mediale Behandlung des Wirbelsturms in den Medien. Es scheint, als sei das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom dort weit verbreitet. Sicher, es gab in den USA Millionen Betroffene, aber auch im Osten Kubas drei Millionen und eine zerstörte Stadt (Santiago de Cuba). Der Sturm brachte auch Elend – erneut – für 450.000 Menschen nach Haiti. Das war amerikanischen Medien keine Meldungen wert.

Präsident Obama schloss seine Siegesrede mit den Worten: „Das Beste kommt erst.“ Das Bessere würde es auch tun.


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Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2012)

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