Das Jahr der offenen Tür in der „Festung Europa“

„Man kann einen Sozialstaat haben – und man kann offene Grenzen haben. Aber man kann nicht beides gleichzeitig haben“ (Milton Friedman).

Nur zur Erinnerung: Als in Europa vor ziemlich genau 20 Jahren die Grenzen zwischen den meisten Staaten der EU fielen, versprachen die damals verantwortlichen Politiker eines hoch und heilig: dass, um den Wegfall der bisherigen Grenzen zu kompensieren, die Außengrenzen des sogenannten Schengen-Raums künftig streng überwacht und kontrolliert werden würden.

Jetzt, im Herbst 2015, wird für jedermann klar sichtbar, dass auch dieses Versprechen nachhaltig gebrochen worden ist. Heute kann de facto nahezu jeder, der das will, zwischen der Straße von Gibraltar, der Ägäis und dem Balkan in die EU einreisen, ohne dass ihn (oder sie) jemand gegebenenfalls ernsthaft daran hindern würde. In der vermeintlichen Festung Europa herrscht „Jahr der offenen Tür“.

Die EU (genauer: die „Schengen“-Staaten) hat die Kontrolle über ihre Außengrenzen de facto aufgegeben. Und damit ein weiteres Mal politischen Betrug an den Wählern begangen, denen das genaue Gegenteil versprochen worden ist. Und dass Griechenlands geografische Lage diesbezüglich ein Problem darstellen wird, war bei dessen Beitritt zum Schengen-Raum nicht ganz unbekannt.

Das überrascht in einer Union, deren raison d'être seit Jahren das Brechen von Versprechen und Verträgen zu sein scheint – man hat uns ja einst auch einen Euro nach dem Muster der D-Mark und nicht der Lira versprochen – nicht mehr wirklich. Es ist aber ein Experiment von historischen Dimensionen mit hunderten Millionen Europäern als Versuchskaninchen wider Willen. Denn noch nie in der Geschichte hat ein Staat auf die Souveränität über seine Grenzen verzichtet, weil dies letztlich die Selbstaufgabe dieses Staates bedeutet. Es entbehrt nicht einer düsteren Pointe, dass Ungarn, das seine EU-Außengrenze mit einem unschönen Zaun dicht machen will, dafür ausgerechnet von Frankreich gerügt wird, dessen erfolgreiche Einwanderungspolitik man in den Slums von Marseille, den brennenden Vorstädten von Paris und dem „Dschungel“ von Calais bewundern kann.

Dem Wähler vorzugaukeln, dieses Problem könne dadurch entschärft werden, dass die unkontrolliert nach Europa zuwandernden Migranten wenigstens gleichmäßig und damit angeblich „gerecht“ auf alle EU-Staaten aufgeteilt werden, wie das nicht nur Bundeskanzler Werner Faymann vehement fordert, heißt freilich, dem Insult auch noch den Hohn hinzuzufügen. Denn: Eine derartige „gerechte Aufteilung der Lasten“ wird es außer in der Fantasie überforderter Politiker nicht geben. Die vergangenen Tage haben nämlich klar gezeigt, dass diese Migranten überhaupt nicht „in die EU“ (also etwa nach Griechenland, Italien oder gar Ungarn) wollen, sondern in einige wenige ganz bestimmte Länder.

Dass Flüchtlinge, die nun in Budapest, Calais oder in Traiskirchen sitzen und die nach Deutschland oder nach England wollen, die laut dem Plan einer „gerechten Verteilung“ aber künftig nach Bulgarien, Polen oder nach Litauen sollen, dies ohne erbitterten Widerstand akzeptieren werden, ist deshalb schlicht unmöglich.

Wer das wirklich exekutieren will, wird von der Polizei bewachte Deportationszüge durch Europa rollen lassen müssen, in denen zehntausende, wenn nicht hunderttausend Menschen gegen ihren Willen von A nach B verbracht werden. Und diese Migranten dann anschließend dort, wo sie um keinen Preis hinwollen, auch mit physischer Gewalt und in Lagern festhalten müssen, denn sonst sind sie flugs wieder dort, wo sie herkamen. Soziale Leistungen oder Arbeitserlaubnis an bestimmte Orte zu knüpfen wird genauso scheitern. Oder wollen wir diese Menschen im Zweifelsfall verhungern lassen, wenn sie sich nicht „gerecht verteilen“ lassen?

Migranten in Länder zu verbringen, die diese Migranten nicht haben wollen und in die diese Migranten auch gar nicht hinwollen – wer das für ein vernünftiges Konzept hält, der muss schon wirklich am Ende seiner gedanklichen Kräfte sein.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2015)

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