Lasst uns Europa doch einfach auf den Kopf stellen!

Weiterwursteln wie bisher ist für die Europäische Union zwar eine Option, aber es ist eine denkbar schlechte. Da gäbe es viel bessere Möglichkeiten.

Es war eine etwas pathetische, aber gleichzeitig auch visionäre Formulierung, mit der die Gründerstaaten der heutigen Europäischen Union im März 1957 in den Römischen Verträgen ihr langfristiges Ziel beschrieben: Eine „immer engere Union“ sollte entstehen. Aus der Perspektive von damals – nur ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – ist dieses Ziel zu einem nicht geringen Ausmaß erreicht worden. Die Union ist heute, gemessen an den Ansprüchen ihrer Gründerväter, eine sehr enge geworden – in vielfacher Hinsicht.

Enge kann man freilich auch als Beengtheit empfinden. Und genau das ist in der Union heute immer öfter und immer stärker der Fall. Nahezu von Monat zu Monat zeigt sich mit zunehmender Intensität, dass die Interessen, Neigungen und Präferenzen der europäischen Nationen zum Teil höchstunterschiedlich geworden sind.

Neigen die einen etwa zu einer soliden Budgetpolitik wie die Deutschen, brechen andere wie etwa Italiener oder Franzosen offen und ungeniert die europäischen Verträge, indem sie weiter Schuldenexzesse betreiben; fordern die einen eine Verteilung der Zuwanderer aus Afrika, der arabischen Welt und Mittelasien auf alle EU-Mitgliedsländer, wollen vor allem die Osteuropäer keine islamische Einwanderung; sind die einen überzeugte Freihändler und globalisierungsfreudig, dominieren bei anderen, wie etwa den Franzosen, im Ernstfall eher protektionistische Ideen. Die Liste ist nahezu beliebig verlängerungsfähig.

Dass es jüngst nicht einmal möglich war, sich auf ein vergleichsweise harmloses und unwichtiges Freihandelsabkommen mit Kanada zu verständigen, ist charakteristisch für diese Gemengelage.

Eine „immer engere Union“? Was 1957 eine Verheißung gewesen sein mag, ist 2016 für sehr viele Europäer auch diesseits des Ärmelkanals zu einer gefährlichen Drohung geworden. Sämtliche verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass es heute in Europa keine demokratische Mehrheit dafür gibt und auch in absehbarer Zukunft wohl nicht geben wird. Damit ist, auch wenn das so im Allgemeinen nicht ausgesprochen wird, die EU als Vorstufe auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa gescheitert. Diesen Weg wird es wohl nicht geben – ob man das mag oder auch nicht.

Einfach stehen zu bleiben und auf bessere Tage zu warten ist freilich auch keine Alternative, wenigstens keine vernünftige. Dazu reihen sich nämlich bereits seit Jahren zu viele Krisen nahezu fugenlos aneinander, zu deren Bewältigung die Union in ihrer momentanen Gestalt nicht ausreichend imstande ist. Dringend nötig wäre daher ein neues Einverständnis darüber, was eigentlich an die Stelle der immer engeren Union treten soll – samt einer europaweiten demokratischen Legitimation dieses Plans B.

Eine kontrollierte oder schlimmstenfalls auch unkontrollierte Rückkehr zum europäischen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts wäre in diesem Kontext genauso wenig vernünftig, wie eine zügige Begründung der Vereinigten Staaten von Europa realitätsfremd geworden ist.

Was also tun? Als Ausweg böte sich an, das Verhältnis zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten völlig neu zu konstruieren. Dabei sollte ein erheblicher Teil jener Kompetenzen, die jetzt in Brüssel liegen, wieder an die Nationalstaaten zurückgegeben werden. Gleichzeitig sollten einige zentrale Kompetenzen, die jetzt noch bei den Nationalstaaten liegen, der Union übertragen werden: die äußere und die innere Sicherheit, die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit, die Wahrnehmung der Außenbeziehungen. Brüssel wäre so für wesentlich weniger, wesentlich wichtigere Materien verantwortlich als heute. Damit könnte auch eine drastische Verkleinerung des ganzen Apparats einhergehen.

Eine so gleichsam auf den Kopf gestellte EU hätte den Vorteil, effizienter als heute das erledigen zu können, was europäisch besser als national erledigt werden kann. Und: Dafür würde sich wohl auch eine demokratische Mehrheit finden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2016)

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