Das Volk möge bitte die Sorgen der Politiker ernster nehmen

Dass die EU-Kommission unverdrossen weiter über einen Beitritt der Türkei verhandelt, zeigt auch deren Unvermögen, aus Trumps Triumph zu lernen.

Die Türkei, so hat der für die Erweiterung der EU zuständige Kommissar Johannes Hahn noch vor wenigen Wochen, ohne mit einer Wimper zu zucken, behauptet, „war, ist und wird ein Kandidatenland sein“. Und erst dieser Tage wiederholte die für die Außenbeziehungen der EU zuständige Kommissarin, Federica Mogherini, diesen Standpunkt und erinnerte die Türkei an „ihre Verpflichtungen als Kandidatenland“.

Man kann das natürlich so sehen. Jedenfalls dann, wenn man die geringe noch verbliebene Akzeptanz der Europäer für die Union und ihre Institutionen vollends liquidieren will. Dass die Hüterin der Verträge, wie sich die Kommission ja nennt, die gerade entstehende islamistische Despotie am Bosporus ungerührt und auch pro futuro als Kandidatenland bezeichnet, das kommt einer direkten Wahlempfehlung für Frau Le Pen, die AfD oder Herrn Strache gleich. Und wenn diese dann endgültig triumphieren, kann man als wohlbestallter EU-Kommissar noch immer über die Dummheit der Wähler die Nase rümpfen.

Dass sich die relevanten europäischen Institutionen gemeinsam mit nationalen Regierungen dreist darüber hinwegsetzen, was die meisten Menschen in der EU wollen, nämlich ein unverzügliches Ende der Beitrittsgespräche mit der Türkei und der damit verbundenen Milliardenzahlungen an Ankara, zeigt vor allem eines: die Unfähigkeit oder Unwilligkeit des Establishments, irgendwelche Lehren aus den jüngsten Ereignissen in den USA zu ziehen.

Nach wie vor sind bis 2020 weitere 4,5 Milliarden Euro europäisches Steuergeld für Ankara eingeplant, davon allein 1,5 Milliarden „für den Ausbau des Rechtsstaats und die Sicherung der Menschenrechte“. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. In der Realität heißt das nämlich: Jene neuen Folterverliese, die Erdoğan braucht, um Dissidenten einzusperren, finanzieren ihm Europas Steuerzahler – ob sie es wollen oder nicht.

Dass der türkische Despot Erdoğan für diese Haltung nur noch Spott und Verachtung übrighat, ist durchaus nachvollziehbar. Nicht zuletzt deshalb kündigte er jüngst an, 2017 eine Volksabstimmung darüber abzuhalten, ob die Türkei überhaupt noch weiter mit der EU über einen Beitritt verhandeln soll.

Erwartungsgemäß verzichtete die EU darauf, Erdoğan die einzige angemessene Antwort zu geben: nämlich nächstes Jahr ebenfalls ein unionsweites Plebiszit darüber abzuhalten, ob die Union die Beitrittsverhandlungen abbrechen soll oder nicht. Man braucht nicht viel Fantasie, um den Ausgang eines solchen Referendums zu erahnen. Das Problem hätte sich sehr schnell sehr effizient gelöst. Dass die Union ein offensichtlich mausetotes Pferd ungerührt weiterreitet, wird meist damit erklärt, dass ein Ende der Beitrittsverhandlungen dazu führen würde, dass die EU dann überhaupt keinen Einfluss mehr auf Erdoğan habe. Ein noch unklügeres Argument ist nur schwer auszudenken.

Denn die jüngste Entwicklung beweist, dass der Einfluss der EU auf Ankara ziemlich genau null ist. Die Entwicklung der Türkei zu einem islamistischen Gestapo-Staat wurde von der „Beitrittsperspektive“ ungefähr so erfolgreich gebremst wie eine Pistolenkugel von lauten Hilferufen des Opfers.

Warum das künftig anders sein sollte, erschließt sich nicht. Würden die Beitrittsverhandlungen morgen für beendet erklärt, würde das genau Nüsse an Erdoğans Verhalten ändern. Dass sich die Union souverän darüber hinwegsetzt, was der Souverän klar erkennbar will, ist natürlich nicht zuletzt dem Flüchtlingsdeal der deutschen Kanzlerin mit der Türkei geschuldet, den Berlin nicht gänzlich kollabieren sehen will.

Die Politik müsse „die Sorgen der Menschen ernst nehmen“, tönt es seit Trumps Triumph aus allen Ecken. Die Art und Weise, wie die Entscheidungsträger der Union dies in der türkischen Frage handhaben, deutet auf ein ganz anderes Bedürfnis hin: Das Volk möge doch bitte gefälligst die Sorgen der Kommissare und Kanzler ernst nehmen.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2016)

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