Nein, Herr Bundeskanzler, nicht die Spekulanten sind schuld an der Krise

Wer glaubt, Spekulanten hätten die Euro-Kalamitäten verursacht, der kann genauso gut sündhafte Selbstbefriedigung Pubertierender für den Auslöser von Rückenmarksleiden halten.

Für den renommierten Weltökonomen Werner Faymann steht außer Streit, wer die Krise des Euro verursacht hat: „Spekulanten“ und „Zocker“ natürlich. Irgendwelche geldgierigen Typen also, die milliardenschwere Wetten gegen den Euro eingehen, um damit Millionen zu scheffeln.

Faymanns Analyse hat, trotz ihrer intellektuellen Brillanz, einen einzigen kleinen Fehler: Sie ist falsch. Die Schuld der „Spekulanten“ an der Finanzkrise ist ein Mythos, der ungefähr so viel Realitätsbezug aufweist wie die Überzeugung, Rückenmarkserkrankungen könnten durch übermäßige Masturbation im Pubertätsalter herbeigeführt werden. Denn kein Spekulant dieser Welt wäre auch nur annähernd imstande, den Eurokurs in seinem Sinne zu beeinflussen. (Das gelang nicht einmal der vergleichsweise übermächtigen Schweizerischen Nationalbank, die 2010 vergeblich mit mehr als 100 Milliarden Franken versuchte, den Euro zu stärken.) Deswegen ist ja immer von „den Spekulanten“ die Rede, nie jedoch von einem konkreten Spekulanten.

Dass dieser Spekulantenmythos trotzdem prächtig gedeiht, hat einen einfachen Grund. Sowohl für Politiker als auch für die Mehrzahl der Wähler ist es nämlich seelisch wesentlich erträglicher, irgendwelche anonymen „Zocker“ verantwortlich zu machen – und nicht etwa jene chronischen Schuldenexzesse der meisten Staaten, die tatsächlich hauptverantwortlich für die Eurokrise sind. Dass nicht Gordon Gecko, Georges Soros oder Dagobert Duck diese Krise verursacht hat, sondern kreditsüchtige Politiker und deren sozialleistungsaffinen Wähler, wird mithilfe des Spekulantenmythos erfolgreich verdrängt.

Wenn übermäßig hoch verschuldete Staaten irgendwann einmal keinen (oder einen nur sehr teuren) neuen Kredit bekommen, dann hat das ganz simple Gründe: weil kein Pensionsfonds und keine Lebensversicherung den Pensionsbeziehern und Versicherungskunden erklären will, warum die Pension leider gekürzt werden muss oder die Versicherung in der Verlustzone ist. Deshalb verkaufen derartige Unternehmen sicherheitshalber rechtzeitig italienische, portugiesische oder griechische Staatspapiere, wenn deren Lage kritisch wird: einfach, um ihre Kunden (und sich selbst) vor Schaden zu bewahren. Das ist nicht „Zockerei“ und „Spekulation“, sondern rationales Verhalten.

Leider hat es Faymann bisher verabsäumt, uns endlich darüber aufzuklären, was an einem derartigen rationalen Verhalten von Pensionsfonds, Versicherungen oder anderen großen Verwaltern von Kundengeldern eigentlich so verwerflich sein soll. Zumal ja seit Ausbruch der Schuldenkrise auch immer mehr individuelle Sparer ihre Euros in Gold oder Schweizer Franken umtauschen – ebenfalls ein klassischer Fall von „Spekulation gegen den Euro“. Auch hier wären wir dem Kanzler für einen Hinweis darauf verbunden, was eigentlich so verwerflich am Bedürfnis zahlloser Menschen ist, ihre Lebensersparnisse vor den Folgen des gewaltigen ökonomischen Politikversagens der letzten Jahre in Sicherheit zu bringen.

Dem ehemaligen Wiener Wohnbau-Stadtrat freilich vorzuwerfen, er halte am Spekulantenmythos fest, um von den tatsächlichen Ursachen der Krise abzulenken, wäre vermutlich unfair. Denn der Mann glaubt wahrscheinlich wirklich, was er sagt. Was freilich nicht eben beruhigend ist.


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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2011)

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