Vom Stammtisch zu Intellektuellen: Die Europäer als Pächter der Moral

Wut könnte einen überkommen angesichts der heuchlerischen und bigotten Haltung der Europäer gegenüber dem jetzigen Flüchtlingsdrama im Mittelmeer.

Andere hochmütig zu belehren, über sie besserwisserisch zu urteilen und zu meinen, man habe die Moral dieser Welt gepachtet, darin waren die Europäer schon immer Weltmeister – angefangen von den Stammtischen über die meisten Journalisten und Intellektuellen bis hin zu den nationalen und europäischen Politikern. Ach, wie vortrefflich lässt sich doch über die USA herziehen, wenn diese versuchen, ihre Grenzen zu kontrollieren und zu sichern oder ordnend in fremde Konflikte einzugreifen.

In den 70 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es sich Europa in der Weltpolitik sehr bequem gemacht: Man stand unter dem Schutzschirm der Amerikaner, konnte sich darauf verlassen, dass diese überall als Weltpolizist auftraten, und konnte sie gleichzeitig ständig kritisieren und sie belehren, wie es eigentlich besser gemacht gehört.

Mit dem von den Europäern zunächst so herbeigejubelten Präsidenten, Barack Obama, und seiner zurückhaltenden, nicht interventionistischen Haltung, gehen jedoch die Flitterwochen zu Ende. Es sind genau jene zwei Konfliktherde – nämlich Syrien, wo die USA nicht im dortigen Bürgerkrieg intervenierten, und Libyen, dessen Schicksal Obama den Europäern überließ – deren chaotische Zustände jetzt Auswirkungen auf Europa haben.

Hunderttausende Menschen flüchten aus Syrien und anderen Konfliktherden in der arabischen Welt und in Afrika in Richtung Europa. Für sie wurde das recht- und regierungslose Libyen zum wichtigsten Ausgangspunkt ihrer Flucht nach Europa. Und jetzt? Man zeigt sich entsetzt und zu Tränen gerührt ob des Schicksals der Unglücklichen, die im Mittelmeer ertrinken, und verspricht salbungsvoll, dass sich solche Tragödien nicht mehr wiederholen dürften.

Es wird jedoch noch viel schlimmer kommen, wenn sich die Politik Europas nicht bald einmal ändert. Weder können die unglücklichen Boatpeople zurückgewiesen noch der Tod von Tausenden in Kauf genommen werden, noch ist es möglich, diese in größerer Zahl in Europa einreisen zu lassen, ohne Aufstände in den europäischen Gesellschaften zu provozieren.

Die Wahrheit ist: Europa muss sich zu einer eigenständigen Machtpolitik aufraffen und zumindest in seiner unmittelbaren Nachbarschaft – wenn nötig auch militärisch – eingreifen. Die Europäer werden es sich künftig nicht mehr leisten können, dem Zerfall von Ländern wie Syrien und Libyen tatenlos zuzusehen und abzuwarten, dass die USA für sie die Kohlen aus dem Feuer holen; beziehungsweise naiv zu hoffen, dass uns Konflikte und deren Auswirkungen schon nicht erreichen werden. Die Heuchelei in Europa muss aufhören!

Bei dieser Gelegenheit drängen sich noch ein paar weitere Fragen auf. Erstens: Im Palästinenser-Lager Jarmouk am Rande der syrischen Hauptstadt Damaskus lebten beim Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 noch über 150.000 Menschen. Die inzwischen 6000 noch verbliebenen Palästinenser, allesamt Zivilisten, sind in den vergangenen Wochen von allen Seiten her beschossen worden.

Wo ist da eigentlich der Aufschrei jener, die sich sonst vor Wut und Empörung gegenüber Israel kaum zurückhalten können, wenn sich die Israelis vor palästinensischen Raketenangriffen aus dem Gazastreifen zur Wehr setzen. Zweitens: Wieso fliehen so viele Moslems aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa, während die Moslems in Israel, dem Westjordanland und dem Gazastreifen dort bleiben und alle ihre Energie dafür verwenden, den Israelis das Leben schwer zu machen? Drittens: Wieso gibt es sogar eine Welle von Menschen, die aus Syrien in den Gazastreifen flüchtet, wenn dieses Gebiet nach Angaben mancher Berichterstatter doch so etwas wie der Vorhof zur Hölle ist?

Bemerkenswerte Fragen, die so gar nicht in der europäischen Öffentlichkeit auftauchen. Merkwürdig. Sind diese Fragen womöglich auch mit der Bigotterie der Europäer zu beantworten?

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2015)

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