Ein britischer Lobgesang auf das Wien der Jahrhundertwende

Es waren die Werte des Liberalismus, die vor 100 Jahren in Wien eine regelrechte Blüte in Architektur, Kunst, Musik und Wirtschaftswissenschaften herbeiführten.

Das renommierte britische Magazin „Economist“ würdigte in seiner Weihnachtsausgabe Wien als einen Ausgangspunkt wichtigster Entwicklungen während der vergangenen 100 Jahre. Was hatte dies möglich gemacht – und ließe sich heute an diese Tradition anschließen?

Wichtige Persönlichkeiten werden genannt: von den Begründern der modernen Architektur wie Adolf Loos oder Otto Wagner und den Vertretern der Kunstszene wie jenen der Wiener Sezession und Gustav Klimt über die Revolutionäre der klassischen Musik wie Gustav Mahler und Arnold Schoenberg, die Philosophen wie Ludwig Wittgenstein, den Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, bis hin zu den prägenden Figuren der politischen Ökonomie der Österreichischen Schule mit Joseph Schumpeter, Ludwig von Mises und Friedrich Hayek.

Wien war eben nicht nur irgendeine Hauptstadt, sondern die eines Imperiums. Aus allen Teilen strömten die Menschen in diese Stadt. Wien wurde zum Anziehungspunkt für viele Menschen, insbesondere für jene, die etwas Besonderes erreichen wollten. Ein Phänomen, wie wir es heute von den USA und Städten wie New York kennen.

In Wien herrschte damals zwar der ultrakonservative und absolutistisch regierende Monarch Franz Joseph. Gleichzeitig entstand unter ihm die liberale Verfassung von 1867, und er war ein Garant für gleiche Rechte und Religions-, Presse- und sonstige Freiheiten.

Auch Juden strömten aus allen Teilen der Monarchie nach Wien, bis sie fast zehn Prozent der Einwohner ausmachten. Die Hälfte der erwähnten Persönlichkeiten waren Juden. Sie dankten Franz Joseph die erlangte Freiheit und Gleichberechtigung mit großer Kaisertreue, Verehrung und mit hervorragenden Leistungen auf allen Gebieten. Die Juden waren zu einem supranationalen Volk in einem multinationalen Staat geworden und traten daher in die Fußstapfen der Aristokratie, schreibt der „Economist“.

Den vorherrschenden jüdischen Geist beschrieb Sigmund Freud einmal so: „Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einverständnis mit der ,kompakten Majorität‘ zu verzichten.“

Zwei Drittel der 200.000 österreichischen Juden gelang die Flucht vor den Nazis. Sie setzten ihr Werk vor allem in den USA, Großbritannien und im entstehenden Israel fort. Viele Jahrzehnte lang unterließ es Österreich schändlich, sie zu einer Rückkehr einzuladen. Viel hat sich da in den vergangenen 30 Jahren geändert. Die wenigen, die noch leben, werden aber nicht mehr zurückkommen, und auch nicht deren Nachkommen.

Geblieben ist bei ihnen und ihren Familien lediglich eine rührend innige Verbundenheit zu Wien, der Sprache und Kultur. Aber der jüdische Geist ist heute ein integraler Teil der westlichen Gesellschaften geworden, sodass man nicht umsonst von einer judeochristlichen Kultur spricht.

Für eine Fortsetzung des Jahrhundert-Wiens bedürfte es aber zumindest einiger Voraussetzungen, die vor 100 Jahren vorherrschten: die Freiheit des Individuums, sich zu entwickeln, Aufbruchstimmung, die Offenheit für Originalität, Kreativität und unkonventionelle Ideen, die Förderung oder zumindest Tolerierung von Leistungsbereitschaft und Unternehmertum. Bei allem Respekt vor den Errungenschaften des Sozialstaats: Es waren nicht erdrückende Steuern, Abgaben, ein Übermaß an gesetzlichen Regelungen und auch nicht überbordende Sozialleistungen und Subventionen, die die großartigen Errungenschaften hervorbrachten, die die Welt der vergangenen 100 Jahre geprägt haben.

Es waren die Werte des Liberalismus, die diese Hochblüte hervorbrachten – und nicht die später so kläglich und blutig gescheiterten Bewegungen des Kollektivismus und Nationalismus, die jetzt wieder ihr Haupt zu erheben scheinen.

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Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2017)

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