Der Markt – nichts anderes als eine gigantische Rechenmaschine

Frank Schirrmacher hat ein neues Buch geschrieben: „Ego – das Spiel des Lebens“. Dessen Kernthese: Alles, was Menschen zu denken und zu handeln bewegt, zielt letztlich auf die Maximierung des Nutzens.

Quergeschrieben
Schon vor seinem Erscheinen löst das neue Buch Frank Schirrmachers „Ego – das Spiel des Lebens“ gesellschaftspolitische Debatten aus. Dies zu Recht, wenn man den Essay Schirrmachers im letzten „Spiegel“ liest, wobei das Nachrichtenmagazin das folgende Zitat aus dem Buch offenbar so wichtig nahm, dass es Wort für Wort zweimal abgedruckt wurde:

„Die Krise, mit der wir heute zu tun haben, ist keine, in der es nur um Geld, Profit, die Pleite von Lehman oder die Krise Europas geht. Das ist, wenn man so will, noch die einfache Seite des Sachverhalts, die am ehesten der Analyse zugänglich ist. Wer weiß, vielleicht wird sie gelöst und die Menschen gehen wieder zur Tagesordnung über.“ Die eigentliche Krise, die Frank Schirrmacher zu erkennen glaubt, ist jene, dass sich das Konzept der mathematischen Spieltheorie in geradezu atemberaubender Weise bestätigt: Alles, was Menschen zu empfinden, zu denken, zu sprechen und zu handeln bewegt, zielt letztlich auf die Maximierung des Nutzens.

Schirrmacher gibt zu, dass bei den ersten, eher kruden spieltheoretischen Modellen die Reaktionen der Menschen nicht mit den erwarteten des Homo oeconomicus übereingestimmt haben: „Als John Nash in den Fünfzigerjahren seine Modelle entwickelte, haben sie die an den Sekretärinnen in der Rand Corporation ausprobiert. Dabei zeigte sich, dass diese Frauen eben nicht egoistisch handelten wie angenommen, sondern rational-altruistisch. Nash ist fast durchgedreht, als er das hörte, und sagte, die Sekretärinnen hätten das Spiel nicht verstanden.“ Nun aber, so Schirrmacher, haben die aus der Atomwaffenindustrie stammenden Physiker die Welt des – wie er es nennt – „Informationskapitalismus“ und der „marktkonformen Demokratie“ so raffiniert mit ihren Computermodellen überzogen, dass sie den Seelenhaushalt des modernen Menschen zu ihrer Sache zu machen verstanden. Es gibt ja auch keine Sekretärinnen mehr, sondern Assistenten der Geschäftsführung. Sie sind, wie alle anderen Agenten des Marktes, moralisch einfach gestrickt: auf ihr Ego konzentriert.

Im rationalisierten Marktsystem kommt es nur darauf an, in allen denkbaren Motiven das im tiefsten Seelengrund lauernde Streben nach dem eigenen Vorteil ausfindig zu machen – denn eine andere Moral kennt der Informationskapitalismus nicht: „Auch Freundschaft, Loyalität, Liebe haben in seinen Augen rationale Gründe, die im eigennützigen Interesse des Einzelnen liegen. Deshalb überall die Inflation von ,Incentives‘, von Belohnungen, die von den Boni der Wall Street bis zu virtuellen Orden und Abzeichen und ,Gefällt mir‘-Abstimmungen für die privatesten Dinge reichen.“

So läuft heutzutage der Markt, der Schirrmacher zufolge nichts anderes als eine gigantische Rechenmaschine ist. Und die schwärzeste Errungenschaft der neuen Ökonomie der „Informationsmarktstaaten“ ist, die Verantwortung bei Misserfolg auf das Ich der Menschen abzuwälzen. Die Politik kann bestenfalls noch ein wenig justieren, „die politischen Akteure sitzen in der Falle“.

Bezeichnend, dass Schirrmachers Essay im „Spiegel“ nicht in der Rubrik „Wirtschaft“ oder „Politik“ seinen Platz fand. Leser dieser Seiten sind so an die von Schirrmacher geschilderte „Tagesordnung“ gewöhnt, dass sie davon kaum beeindruckt sein dürften. Ist es wirklich so schlimm um die Conditio humana bestellt?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2013)

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