Der Staat muss seine Bürger vor politischen Religionen schützen

Mit dem Kunstwort „Islamismus“ wird schamhaft umschrieben, was man den „politischen Islam“ nennen sollte. Gegen ihn muss sich der Staat zur Wehr setzen.

Einige der Lehrerinnen und Lehrer an Frankreichs Schulen dürften mit der Teilnahme an der machtvollen, über eine Million Trauender umfassenden Demonstration in Paris, selbst wenn sie dieser nur über die Fernsehschirme beiwohnten, bitter nötigen Trost gefunden haben. Denn sie erlebten in ihren Klassen, dass manche ihrer Schülerinnen und Schüler ganz und gar nicht von den Morden der fanatischen Gotteskämpfer erschüttert waren.

Mehr als fünf Dutzend Fälle von Störungen der Gedenkminute für die Opfer wurden gemeldet. Doch es ist zu befürchten, dass die Zahl der Affronts weitaus höher war. Sie erstreckten sich vom unverhüllten Siegeszeichen der gespreizten Zeige- und Mittelfinger, als in den Klassen zur Trauer über die Ermordeten aufgerufen wurde, bis hin zur lauthals verkündeten Erklärung von Schülern: „L'ennemi, c'est le juif“ („Der Feind, das ist der Jude“).

Was veranlasst die jungen Renegaten einer von allen als selbstverständlich erwarteten einhelligen Ablehnung der schändlichen Verbrechen zu solchen Reaktionen? Die Antworten, es sei die Misere ihrer desolaten Umgebung, die Hoffnungslosigkeit angesichts ihrer sozialen Lage, die Feindseligkeit, die ihnen die Eingesessenen entgegenbrächten, greifen zu kurz.

Eher darf man argwöhnen, dass ihnen – vom Staat unkontrolliert, womöglich in geheimen Zirkeln und fremder Sprache – die Ideen eines politischen Islam eingeredet werden, dessen Ziel es ist, möglichst viele Menschen seinen Glaubenslehren und Maßregeln zu unterwerfen und jene, die diesen politischen Islam ablehnen, zu vernichten.

Der französische Staat fühlt sich Religionsgemeinschaften gegenüber völlig unzuständig, insbesondere ist der von ihm verantwortete Schulunterricht prinzipiell religionsfrei. Es mag sein, dass diese Haltung à la longue die Bedürfnisse der Bevölkerung nach Freiheit und Sicherheit– jene Bedürfnisse, die sich ein gut geführter Staat als Maxime setzt – nicht so gut wie die hierzulande geübte Usance einlöst, bestimmte Religionsgemeinschaften nach klaren Kriterien anzuerkennen und ihnen unter anderem die Möglichkeit des Unterrichts an öffentlichen Schulen und der Ausbildung von Gelehrten an Universitäten zu gewähren.

Das wesentlichste unter diesen Kriterien ist, dass die religiöse Gruppe sich unter keinen Umständen als Gemeinschaft einer politische Religion verstehen darf: Die Indoktrination Unmündiger oder die Verdammung derer, die sich der Gruppe nicht anschließen – zwei typische Merkmale einer politischen Religion –, sind ihr strikt untersagt. Was die Belange des öffentlichen Lebens angeht, ist jede anerkannte Religionsgemeinschaft umfassend und unwiderruflich der weltlichen Gewalt untergeordnet.

Das schränkt die Religionsgemeinschaften in ihrer Mission überhaupt nicht ein. Denn wie eine Einzelperson das private Leben entsprechend der von der Religion gesetzten Gebote, des von ihr geformten Gewissens und des von ihr verkündeten Glaubens gestaltet, interessiert den Staat nicht. Das Reich der vom Staat anerkannten Religionen ist „nicht von dieser Welt“, die Öffentlichkeit wird von ihnen nicht behelligt, nur Hypokriten fühlen sich von ihren Bauten, Zeichen und Ritualen gestört.

Der sich zu Religionsgemeinschaften nicht neutral verhaltende Staat hat sich im Gegenzug damit ein Mittel geschaffen, seine Bürger vor aufdringlichen Religionen zu schützen und vor allem unmissverständlich, energisch sowie wehrhaft politische Religionen zu bekämpfen. Allein ein Islam, der sich nicht als politische Religion versteht, verdient staatliche Anerkennung.

Als vor mehr als hundert Jahren das Kaiserreich diese Anerkennung aussprach, hatte es den ganz unpolitischen Islam seiner damaligen bosnischen Untertanen vor Augen. Die Zeiten haben sich geändert – und es zeugte von grob fahrlässiger Naivität, würde der Staat nichts gegen den politischen Islam unternehmen.

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Zum Autor:

Professor Rudolf Taschner hält an der TU Wien die Mathematikvorlesung für Studentinnen und Studenten der Elektrotechnik und ist zusammen mit seiner Frau, Bianca,

Betreiber von math.space im Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2015)

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