Utopia Schule 8

Keine Schnitte, sondern Brücken.

Es gibt kaum etwas Aufregenderes im Leben eines zehnjährigen Kindes als den Wechsel von der Grundschule in die Mittelschule. Vor allem dann, wenn mehrere Alternativen zur Auswahl stehen und es zu entscheiden gilt, auf welches Angebot man sich einlässt. Eine bunte Palette von Motiven spielt bei dieser Entscheidung der Eltern eine Rolle: In welche Schule werden die Freunde gehen? Welche Schule ist örtlich am günstigsten gelegen? Was raten Verwandte und Bekannte? Was kann man aus den Bestenlisten, die von findigen Herausgebern bunter Heftchen als objektive Kriterien angepriesen werden, herauslesen? Bei welcher Schule ist der „Tag der offenen Tür“, bei dem sie sich von ihrer besten Seite zeigen sollte, besonders in Erinnerung geblieben? Welche Sympathie haben die Direktoren hinterlassen? Welche Schule hat Absolventenvereine mit gut gesponnenen Netzwerken, die bei der künftigen Karriere hilfreich zu sein versprechen?

Es sei dahingestellt, ob die Beantwortung derartiger Fragen die optimale Schulwahl befördert. Und ebenso sei dahingestellt, ob es gut ist, die Lehrerin oder den Lehrer der Grundschule mehr oder minder raffiniert zu überreden, das Abschlusszeugnis so auszustellen, dass die Wunschschule der Eltern von der angeblichen Eignung des Kindes überzeugt ist. Schließlich ist zu bezweifeln, ob ein höchstens eine halbe Stunde dauerndes Gespräch des Kindes mit der Schulleitung der neuen Schule sichere Klarheit darüber schafft, ob das Kind in dieser Schule weder über- noch unterfordert sein wird.

Am klügsten wäre es, vor der zu Frühjahrsbeginn zu erfolgenden endgültigen Anmeldung im Januar in den weiterführenden Schulen drei Tage lang den letzten Klassen frei zu geben und in diesen drei Tagen die Kinder, deren Eltern an der jeweiligen Schule interessiert sind, einzuladen, in den frei gewordenen Klassenräumen mit den Lehrkräften, die sie wohl im nächsten Schuljahr bekommen dürften, den Schulalltag schnuppern zu lassen: mit dem Unterricht, den Pausen, den Übungen, die sie ohnehin ein paar Monate später dort erwarten werden. Zweierlei ist damit erreicht: die Kinder und ihre Eltern erhalten einen authentischen Eindruck der von ihnen angepeilten Schule, und die Lehrkräfte machen sich von vielen der Kinder, die sie im nächsten Schuljahr anvertraut bekommen werden, ein erstes Bild. Danach kommen die Eltern mit dem Kind zur Schulleitung: Jetzt ist das Gespräch, ob die Wunschschule tatsächlich das erfüllen wird, was man sich von ihr verspricht, ob das Kind wohl in dieser Schule gut aufgehoben sein wird, weitaus substanzieller, als wenn es allein auf Gerüchten über die Schule und auf den Noten eines Halbjahreszeugnisses beruht.

Und gelangt man zur Einsicht, dass die als Erstes ins Auge gefasste Wunschschule doch nicht den Erwartungen entspricht, kann man im Monat Februar diese Prozedur ohne Probleme wiederholen.

Rudolf Taschner ist Mathematiker und Betreiber des math.space im Wiener Museumsquartier.


meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2009)

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