Europäische Werte: Schutz des Schwächeren und des Lebens

Europa ist gegen die Todesstrafe und setzt sich für Schwache und Benachteiligte ein. Die Praxis der Abtreibung kritisch zu hinterfragen, ist hingegen ein Tabu.

Entsetzen und Empörung löst in Europa das grausame Morden im Nahen Osten aus. Man erträgt kaum das Wissen und die Bilder von jenen Untaten, die nur wenige Flugstunden von hier tagtägliche Realität sind, in Syrien aber hoffentlich der Vergangenheit angehören. Besonders Kinder als unschuldige Opfer des Krieges können sich des Mitgefühls der Europäer sicher sein. Wie können Menschen nur so grausam sein, fragen wir uns.

Wir sind auch einig darin, die Todesstrafe abzulehnen. Bei allem Entgegenkommen gegenüber dem türkischen Präsidenten hat die EU klargemacht, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe eine rote Linie sei, die zu einem endgültigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen führen würde. Wie wichtig uns der Schutz des Lebens auch von Schwachen, Kranken und Alten ist, zeigt die Debatte über die Sterbehilfe. In Österreich macht sich bereits strafbar, wer jemanden, der sein Leben beenden will, unterstützt.

Mitgefühl herrscht auch für Eltern, die ihr Ungeborenes auf tragische Weise verlieren. Kürzlich wurde ein Gesetz verabschiedet, das Eltern von sogenannten Sternenkindern erlaubt, diese namentlich ins Personenstandsregister einzutragen und auf würdige Weise zu beerdigen. Dabei handelt es sich um Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von unter 500 Gramm, die kurz vor, während oder nach der Geburt sterben. Betroffenen Eltern wird es damit besser möglich, um ihr Kind zu trauern.

Geht es jedoch um Abtreibung, ist alle Empathie wie weggeblasen. Es soll keine öffentliche Debatte geben, man will darüber, über das Schicksal der Mütter und der Ungeborenen, nichts wissen. Man will, so die Argumentation, „Druck“ vermeiden. Dafür leugnet man die körperlichen und seelischen Folgen, die eine Abtreibung nach sich zieht. Man will nicht wissen, wie viele Frauen diese Entscheidung treffen, warum sie es tun, wie es ihnen danach geht. Somit weiß man auch nicht, wie man Frauen und Männern diese Erfahrung ersparen und vermeiden könnte, dass es so weit kommt. Abtreibung soll ein Tabu bleiben, und die Betroffenen müssen in aller Stille selbst und allein damit zurechtkommen.

Erstaunlich ist, welche Aggression jenen entgegenschlägt, die sich für den Schutz des Lebens einsetzen. Dabei geht es nicht um Aktivisten vor Abtreibungskliniken, deren Verhalten zu Recht als umstritten gilt. Es geht um friedliches Engagement. In Wien wurde kürzlich ein „Marsch für das Leben“ durch die Innenstadt verboten, weil gewaltbereite linksradikale Gegendemonstranten mobil machten. Dabei wurde nur ein Überdenken der Fristenlösung gefordert und kein generelles Verbot der Abtreibung. In anderen Ländern Europas, wie in Deutschland, gehen Abtreibungsbefürworter ebenso aggressiv vor. Systematisch werden Veranstaltungen gestört und wird versucht, diese zu verhindern. Für die „Täter“ bieten einschlägige Vereine gratis Rechtshilfe an.

In Frankreich stimmte kürzlich die Nationalversammlung in erster Lesung einer Gesetzesnovelle zu, die die „digitale Behinderung der Schwangerschaftsunterbrechung“ unter Strafe stellen soll. Das bedeutet, dass man nicht einmal mehr im Internet kritisch über die Auswirkungen der Abtreibung informieren darf.

Diese Entwicklung ist bedenklich, damit wird die Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt. Noch dazu ist Abtreibung in Frankreich – wie in Österreich – verboten und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei.
Wenn Europa wirklich ein Hort des Respekts vor dem Leben und der Verteidigung des Rechts auf Leben sein will, dann sollte es diese Doppelmoral beenden. Es sollte sich nicht anderen Teilen der Welt oder anderen Kulturen moralisch überlegen fühlen, wenn es gleichzeitig ein so schwerwiegendes Thema wie die Abtreibung mit einem Tabu versieht und nicht einmal die freie Meinungsäußerung darüber zulässt. Sonst macht sich Europa unglaubwürdig.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin

Dr. Gudula Walterskirchen ist Historikerin und
Publizistin. Sie war bis 2005 Redakteurin der „Presse“, ist seither freie Journalistin und Autorin zahlreicher Bücher mit historischem Schwerpunkt.
www.walterskirchen.cc

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2017)

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