Am Herd

Gerechtigkeit für den Herbst!

Herbstspaziergang
HerbstspaziergangAPA/AFP/ARMEND NIMANI
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Eigentlich ist er fast so schön wie der Frühling – und er kann echt nix dafür, dass nach ihm der Winter kommt.

Ich habe eine Libelle gesehen, eine blau schimmernde, mitten in der Stadt. Sie zog ihre Bahnen zwischen den Kaffeehaustischen und Stühlen, die noch draußen standen, zwar schon mit Decken und Polstern bestückt, aber immerhin. Ich sitze in der Sonne, vielleicht zum allerletzten Mal. Das sagen wir oft im Herbst: zum allerletzten Mal. Zum allerletzten Mal tragen wir Sonnenbrillen, zum allerletzten Mal fahren wir mit dem Rad zur Arbeit. Das letzte Blatt fällt von der Platane im Beserlpark, die letzte Rosskastanie glänzt, die letzte Wespe setzt sich auf den Zwetschkenkuchen. Dann kommt auch schon der Winter.

Sonnenuhren. Der ist auch schuld daran, dass wir den Herbst nicht mögen und ihm nur wehmütige Gedanken und Gedichte widmen, in denen von Einsamkeit die Rede ist und vom Schatten auf den Sonnenuhren. Wir sehen ja gar nicht, was ist, nur das, was bald sein wird, und das mögen wir nicht: Minustemperaturen, Schneematsch auf den Straßen, Arbeitstage, an denen wir in Dunkelheit aus dem Haus gehen, und wenn wir zurückkommen, ist es schon wieder finster. Die Vorweihnachtszeit. Die auch noch.

Aber eigentlich ist das allerletzte Picknick im Freien genauso fein wie das allererste und der Herbst fast so schön wie der Frühling, er kann ja nix dafür, dass ihm kein Sommer folgt. Regnet es denn etwa nicht im März? Sind im April die Nächte nicht kühl und viel zu lang? Wenn sich jetzt die Sonne blicken lässt, wärmt sie fast wie im Mai, und dazu ist das Licht weicher und die Menschen sanfter, nicht so verhärmt von den vielen kalten, dunklen Tagen, die hinter ihnen liegen. Noch erinnern sie sich an den Urlaub, ans Meer, an nasse Haare, die im Wind trocknen.

Räuberhöhlen. Die Kinder jedenfalls wollen nicht mehr hinaus, nicht auf den Spielplatz ums Eck und nicht in den Wald, bei ihnen stößt die Warnung, heute, ja heute sei „vielleicht der allerletzte schöne Tag“, auf taube Ohren. „Das sagt ihr schon die ganze Zeit“, rufen sie, und man hört die Anklage. Sie möchten endlich zuhause bleiben dürfen, sich in Räuberhöhlen aus Decken verkriechen, in denen es sich die Kuscheltiere schon gemütlich gemacht haben. Zeit fernzuschauen, zu lesen, Nintendo zu spielen, bis der verflixte virtuelle Hund endlich versteht, wie man „Sitz“ macht.

Das kann man von den Kindern lernen: dass Regentage etwas Gutes haben. Kein schlechtes Gewissen mehr, wenn man das Wochenende im Bett vertrödelt. Statt hektisch den letzten Sonnenstrahlen nachzulaufen, darf man im Lesesessel versinken. Vielleicht kocht jemand Tee. Vielleicht gibt es gebratene Kastanien. Vielleicht dauert der Herbst noch lang.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2017)

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