Warum wir alle in ziemlich unterschiedlichen Welten leben

Gemeinhin halten wir das, was wir sehen, für die Realität. Aber es ist bestenfalls unsere subjektive Wirklichkeit.

Kann man die Welt, „so, wie sie ist“, erkennen? Wahrlich, ein philosophischer Klassiker! Als Biologe kann ich dazu bemerken, dass die Sinnesorgane dem Gehirn bloß melden, was über hunderte Millionen Jahren Stammesgeschichte das Überleben und die Vermehrung optimierte. Gemeinhin halten wir das, was wir sehen, für die Wirklichkeit. Das ist aber bestenfalls unsere subjektive Wirklichkeit. Schon allein, weil Information aus der Netzhaut in kleinste Info-Einheiten zerlegt und in rein digitalisierter Form an die Sehhirnrinde weitergegeben wird, die dann daraus wieder unser privates Bild der Wirklichkeit zusammenbastelt. Da die Ausbildung der Sehhirnrinde unter anderem von der Reizumgebung während des Aufwachsens abhängt, nehmen andere Menschen dieselbe Welt wohl anders wahr als wir selbst.

Mit der objektiven Wirklichkeit tun wir uns übrigens auch schwer, weil der Sinnesinput nur das Rohmaterial für das Gehirn bildet, die für uns relevante Welt zu interpretieren und zu repräsentieren. Der menschliche Forscherdrang ist letztlich darauf angelegt, bereits bestehende Repräsentationen zu hinterfragen und neue anzulegen. Diese Repräsentationen kommen immer mit Einstellungen für Tisch, Hund, Berg, Polizist, Löwe, Gott – alles, was wir bezeichnen und auch, wofür wir keine Worte haben.

Das Stirnhirn sorgt dafür, dass sich unsere Repräsentationen, unsere Einstellungen im Zehntelsekundentakt an die Erfahrung anpassen. Repräsentationen entstehen also durch Lernen auf Basis evolutionärer Voreinstellungen; es wird ihnen affektive Wertigkeit zugeordnet. Während der eine das Klettern liebt, treibt dem anderen bereits die Vorstellung der Höhe den kalten Angstschweiß auf die Stirn. Aber das Angstbild des Klettersteigs kann durch Annehmen der Herausforderung und Überwinden der Phobie in Leidenschaft umschlagen. Muss es aber nicht.

Repräsentationen sind also nie völlig rational. Ein nahezu paradoxes Problem für Wissenschaftler, die ja auch beruflich auf Repräsentationen angewiesen sind, weil sie als Menschen gar nicht anders arbeiten können.

Mit viel Aufwand bemühen sich Wissenschaftler in Teilbereichen, ihre subjektiven Weltsichten zu standardisieren und das Irrationale in ihren Repräsentationen zurückzudrängen. Zumindest in der empirischen Wissenschaft muss man sich über Ergebnisse einigen können. Sie müssen reproduzierbar werden, um Gültigkeit zu erlangen, letztlich über einen Prozess der Standardisierung von Repräsentationen. Gültigkeit, nicht Wahrheit, wohlgemerkt. Schon allein deswegen, weil Wissenschaft eine (nur als philosophisches Konstrukt sinnvolle) absolute Wirklichkeit niemals 1:1 abbilden beziehungsweise repräsentieren kann. Trotz Mathematik als Werkzeug, das durch das Schaffen externer Repräsentationen das menschliche Potenzial erweitern kann. Wie meinte weiland schon der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen J. Gould? Wahrheit in der Wissenschaft gibt es nicht, dazu müsse man sich an die Pfaffen oder Politiker halten.

Apropos Politiker: Ob Begriffe wie Reform, Sparen, Bildungsbudget etc. bei Regierungsmitgliedern einfach anders repräsentiert sind als bei der Opposition, den Wählern oder Kritikern? Eigentlich wollte ich diesmal über die geistige Aneignung der Welt schreiben; habe ich im Grunde auch. Mehr dazu in zwei Wochen.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2014)

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