Kia E-Niro im Härtetest: Es muss nicht immer Tesla sein

Der abgedeckte Kühlergrill weist den E-Niro als Stromauto aus.
Der abgedeckte Kühlergrill weist den E-Niro als Stromauto aus.Clemens Fabry
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Wer ein Elektroauto sucht, das nicht nach 200 Kilometern an die Steckdose muss, endet meist bei Tesla. Bei der Reichweite versprechen die Amerikaner viel, verlangen dafür aber auch eine Menge. Doch die Koreaner haben mit dem Kia E-Niro ein fast perfektes, reichweitenstarkes Elektroauto gebaut.

Er sieht eigentlich ganz konventionell aus, der E-Niro. Beim Design verzichten die Koreaner auf Spielereien mit dem „Seht her, ich bin ein Elektroauto“-Effekt. Nüchtern und klar präsentiert sich das kompakte SUV. Fast ein bisschen brav. Einzig der abgedeckte Kühlergrill verrät, dass es sich hier um ein E-Auto handelt. Kia hat gemeinsam mit Hyundai eine Basis entwickelt, mit der sowohl Elektroschlitten als auch Benzin- und Dieselautos möglich sind. Kia geht auch mit der elektrischen Version des Niro konsequent seinen Weg. Dabei verzichtet man auf Experimente und baut ein reichweitenstarkes Elektroauto, das, wie ein Händler sagt, derzeit „wie Goldbarren“ gehandelt wird.

Nüchtern, klar aber nicht fad. Der Niro ist ein Wolf im Schafspelz. 204 PS und fast 400 Newtonmeter sieht man ihm nicht an. Und die haben es in sich.
Nüchtern, klar aber nicht fad. Der Niro ist ein Wolf im Schafspelz. 204 PS und fast 400 Newtonmeter sieht man ihm nicht an. Und die haben es in sich.Clemens Fabry

Zuerst die Eckdaten: Im E-Niro werkelt ein synchroner Elektrofrontmotor, der 204 PS liefert und mit einem Drehmoment von 395 Newtonmetern aufwartet. In 7,8 Sekunden sprintet er damit von null auf 100. Klingt nicht schlecht. Wer braucht schon fast 500 PS mit 600 Newtonmetern im Alltag, wie es das Model 3 von Tesla in der Performance-Edition serviert? Der Niro soll auch nur 15,9 Kilowattstunden auf 100 Kilometer verbrauchen und dadurch mit dem 64 Kilowattstunden großen Akku 455 Kilometer weit kommen. Das ist für ein fast 1800 Kilo schweres Auto sehr brauchbar. Wie wir aber wissen, entsprechen die Angaben zu Stromhunger und Reichweite selten der Realität. Daher hat »Die Presse am Sonntag« den Niro 2600 Kilometer, 14 Tage lang einem Härtetest unterzogen und dabei auch leider ein Problem entdeckt, das bei einem Kurztest kaum zutage tritt.

Niemand will wegen der Reichweite in einem Elektroauto frieren müssen.

Extrempendeln. Wie sieht der Härtetest für Elektroautos aus? Wir fahren täglich 100 Kilometer über die Südautobahn nach Wien, quälen uns gemeinsam mit anderen Pendlern durch den Stau in der Südeinfahrt über die Tangente in den dritten Bezirk und brausen am Abend wieder 100 Kilometer zurück. Dabei streicheln wir den Niro nicht und wählen auch keinen Eco-Modus. Gefahren wird ganz normal wie die anderen. Die Heizung bleibt an, wer will schon wegen der Reichweite im Auto frieren?

Steigen wir ein und legen los. Es ist sieben Uhr, hat neun Grad Außentemperatur, der Akku ist voll, der Bordcomputer zeigt 390 Kilometer Reichweite. Für E-Autos typisch fährt man extrem leise. Wobei beim Losfahren ein eigenartiges Geräusch dazukommt. Es klingt wie der Antrieb des Raumschiffs Enterprise. Der Sound ist künstlich und soll Fußgänger davor bewahren, den Niro zu überhören. Das ist ab 1. Juli Vorschrift in der EU. Mit einem Knopf mit der Aufschrift „VESS“ lässt sich das abstellen. Aktiviert ist der Fußgängerwarnton aber bei jedem Start.

Auf der Landstraße wollen 204 Elektropferde zeigen, was sie können. Der Niro galoppiert richtig los. Er hat weit mehr als ausreichend Kraft und Antritt für flotte Überholmanöver oder Sprintstarts an Ampeln. Dabei liegt das Auto satt auf der Straße und neigt nur in engen Kurven dazu, leicht über die Vorderachse zu schieben. Reichlich Fahrspaß, den so nur Elektroautos bieten, ist also garantiert. Diese enorme Agilität sieht man ihm überhaupt nicht an. Ein Wolf im Schafspelz also, der GTI-Fahrer ins Lenkrad beißen lässt.

Bergab. Auf der Autobahn geht es in Richtung Wien meist bergab. Hier holt sich der Koreaner Energie zurück. Der Reichweitenzähler bleibt zehn Kilometer lang auf dem gleichen Wert von 350. Die Bremsenergierückgewinnung oder auch Rekuperation genannt lässt sich ähnlich wie beim Audi E-Tron über Schaltwippen am Lenkrad regulieren. Sogar zum Stillstand kann man den Wagen mit der linken Wippe bringen.

Im Innenraum leuchtet ein ganze Reihe Schalter und Drehknöpfe. Für fast alles gibt es einen Knopf, und da Kia in den Niro so gut wie alles reingestopft hat, was das Konzernregal an Extras und Assistenzsystemen hergibt, sind das ziemlich viele Schalter und Regler. Das irritiert aber kaum, denn die meisten Bedienungselemente sind vertraut. Lautstärkendreher für das Radio kennt man, Lüftungs- und Heizungsregler auch. Neu und gescheit: „Driver only“ bei der Heizungssteuerung. Das bringt ein paar Kilometer Reichweite, wenn außer dem Fahrer niemand mitfährt.

Ein klassisches Cockpit mit digitalem Tacho. Unter der Heizungssteuerung in der Mitte gibt es ein Fach, das Smartphones kabellos auflädt.
Ein klassisches Cockpit mit digitalem Tacho. Unter der Heizungssteuerung in der Mitte gibt es ein Fach, das Smartphones kabellos auflädt.Clemens Fabry

Mittig, schön ins Armaturenbrett eingelassen ein Acht-Zoll-Touchdisplay mit Navigation und Unterstützung für Android Auto und Apple Car Play. In der Mittelkonsole thront ein großes Drehrad. Damit lassen sich die Fahrmodi wählen. Auch das Lenkrad ist übersät mit Schaltern. Einer davon steuert den adaptiven Tempomaten mit integriertem Spurhalteassistenten. Er macht seinen Job sehr gut, insgesamt sogar besser als Teslas Autopilot.

Schön langsam erreichen wir den täglichen Stau beim Knoten Vösendorf. Der intelligente Tempomat hängt sich einfach an den Vordermann. So kommt man sehr gemütlich durch den stockenden Verkehr. Kein Kuppeln, Gang rein, Gas, kuppeln, Gang raus, bremsen und wieder von vorn, nichts. Das übernimmt das Auto. Nur bei Stillstand von ein paar Sekunden, will der Stop-and-go-Assistent mit einem kurzen Tipper aufs Strompedal reaktiviert werden. Wozu eigentlich? Beim Model 3 ist das nicht notwendig. Einziges Problem im Stau: Der Spurhalteassistent hat offenbar noch nie etwas von der Rettungsgasse gehört und zieht ununterbrochen in die Fahrstreifenmitte. Aber auch dafür gibt es einen Knopf, und der Assistent gibt Ruhe.

Stauassistenten sind zwar nichts Elektroautotypisches, helfen aber beim Stromsparen. In Summe hat der Niro bei der fast exakt 100 Kilometer langen Fahrt nach Wien etwas mehr als 16 Kilowattstunden verbraucht. Das sind Stromkosten von circa drei Euro. Dieser Verbrauchswert war im Testzeitraum meist ähnlich. Das ist beachtlich wenig. Der fast drei Tonnen schwere Audi E-Tron schluckte für die gleiche Strecke 29, Teslas Model 3 19 Kilowattstunden.

Kias E-Niro verbraucht weniger Strom als Audis E-Tron oder Teslas Model 3

Bergauf. Am Abend fahren wir zurück aufs Land. Der Akku ist noch zwei Drittel voll, es hat 13 Grad. Temperaturen machen dem E-Niro weniger aus, denn der Akku hat ein aktives Thermalmanagement, was die Reichweitenverluste bei weniger optimalen Außentemperaturen drückt.

Auf dem Rückweg geht es klarerweise wieder bergauf, was in mehr Verbrauch mündet. 21 bis 23 Kilowattstunden waren es auf der Rückfahrt. Im Heimatort angekommen stehen Besorgungen an. Auf dem Land geht das ganz schnell in die Kilometer. Am Ende des Tages ist der Akku über die Hälfte geleert, und 215 Kilometer sind abgespult. Also ab an die Steckdose. Und hier zeigt sich leider die größte Schwäche des Koreaners: Er kann am Wechselstrom nur einphasig laden.

Kurzer Stromexkurs. Österreichs herkömmliche Haushaltssteckdosen liefern einphasigen Wechselstrom, der maximal 2,3 Kilowatt (kW) leistet. Eine rote 16-Ampere-Starkstromsteckdose bietet dreiphasigen Wechselstrom. Über jede Phase können 3,7 kW angezapft werden. In Summe sind das elf kW. Damit wäre ein völlig leerer Akku des E-Niro inklusive Ladeverluste in maximal sechseinhalb Stunden voll. Aber der Kia kann nur eine Phase nutzen. Somit braucht der Niro am Starkstrom mindestens 18 Stunden, bis er aufgeladen ist.

Unter der Motorhaube gibt es auch einen Motor und keinen weiteren Kofferraum.
Unter der Motorhaube gibt es auch einen Motor und keinen weiteren Kofferraum.Clemens Fabry

Wir wollen den Kia an den Starkstrom stöpseln. Der Akkustand zeigt 48 Prozent. Im Auto liegt aber nur eine Ladebox für eine Haushaltssteckdose. Die Lösung ist eine mobile Wallbox namens NRG-Kick. Nach einem Knacken und Klicken im Auto meldet der Bordcomputer zehn Stunden Ladezeit. Das wird knapp. In zehn Stunden geht es schon wieder nach Wien.

So beginnt das Spiel, dass das Auto bei einer täglichen Fahrleistung von mehr als 200 Kilometern daheim nicht mehr voll aufgeladen werden kann. Täglich verliert man ungefähr acht Prozentpunkte Akku-Vermögen. Der Weg aus dem Dilemma ist ein Ladeanschluss am Arbeitsplatz, oder einmal in der Woche einen Schnelllader zu besuchen. Er liefert nämlich Gleichstrom – und der schmeckt dem Niro gleich viel besser –, und er saugt je nach Ladesäule bis zu 70 kW in den Akku.

Schade eigentlich. Beim Kia E-Niro ist Reichweitenangst wie beim Tesla Model 3 kaum vorhanden. Intelligente Rekuperation und ein Thermalmanagement für den Akku sorgen für sichere 320 bis 370 Kilometer reale Reichweite. Wäre da nicht die Ladeangst, wäre der Niro ein perfektes Pendlerauto mit viel Platz. Der Kofferraum bietet mit 451 Litern ausreichend Stauraum. Legt man die sehr geräumige hintere Sitzreihe um, passen sogar 1405 Liter hinein. Ein ausgiebiger Ikea-Ausflug ist somit auch kein Problem.

451 Liter gehen rein in den Kofferraum. Die NRG-Kick Wallbox gehört nicht zur Serienausstattung.
451 Liter gehen rein in den Kofferraum. Die NRG-Kick Wallbox gehört nicht zur Serienausstattung.Clemens Fabry

Trotzdem. Kia zeigt allen anderen, dass ein E-Auto in konventionellem Stil abgesehen von der Ladeschwäche ohne Kompromisse möglich ist, und verlangt dafür einen für E-Autos moderaten Preis. Die getestete Longrange-Variante beginnt bei rund 42.000 Euro und endet in der Topausstattung bei 49.000. Allerdings braucht man Geduld: Wer heute bestellt, muss bis ins erste Halbjahr 2020 auf den E-Niro warten.

Zufälliges Treffen der Konzernbrüder Hyundai Kona Elektro (hinten) und Kia E-Niro an der Ladesäule. Der Kona ist designverspielter, der Niro dafür um 20 Zentimeter länger.
Zufälliges Treffen der Konzernbrüder Hyundai Kona Elektro (hinten) und Kia E-Niro an der Ladesäule. Der Kona ist designverspielter, der Niro dafür um 20 Zentimeter länger.mare

Zwei Varianten

Der „kleine“ E-Niro hat 136 PS, 395 Nm Drehmoment und einen 39,2-kWh-Akku mit 289 km Reichweite. Zu haben ist er ab 37.490 Euro.

Der „große“ E-Niro hat 204 PS, auch 395 Nm Drehmoment und einen 64-kWh-Akku mit 455 km Reichweite. Er ist ab 41.890 Euro zu bekommen.

Links:
E-Niro auf kia.at
Kona Eletro auf hyundai.at
nrg-kick.com

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