Der Adriastaat drängt in die EU – doch Intellektuelle kritisieren die Zustände im Land als undemokratisch.
Zwischen Podgoricas titoistischen Gebäudequadern künden Palmen und Zypressen von der nahen Adriaküste. Selbst im Winter bilden die umliegenden Zweieinhalbtausender gegen den milden Föhn nur eine wirkungslose Drohkulisse. Mediterranes Flair auch auf den Plätzen und in den Cafés; das Balkanische hat im Zentrum nichts mehr verloren. Gepflegte Parks, sorgsam renovierter Jugo-Modernismus, Statuen der historischen Führungspersönlichkeiten des unabhängigen Montenegros, aber keine Spur von Tito, nach dem die Stadt einst benannt war. Schilder informieren über Baumaßnahmen der EU, auf Plakaten wird für HIV-Toleranz und gegen Korruption geworben. Die Zeiten, als Podgorica ein zwielichtiges Provinznest war, scheinen vorbei.
Im „Fellini“, einem italienischen Restaurant mit westeuropäischen Preisen und gedämpftem Licht, sitzt Filip Kovačević. Vor der Tür ein Neubauviertel, dennoch sieht er keine neuen Zeiten anbrechen. „Montenegro hat nie einen Mauerfall erlebt“, sagt der 37-jährige Publizist und Politologe düster. „Hier herrschen Bedingungen wie vor 1989.“ Dann erinnert er daran, dass seine Heimatstadt Kotor von 1815 bis zum Ersten Weltkrieg zum Habsburgerreich gehört hat – als könnte ihn diese Episode in der Geschichte seines Landes irgendwie vor den heutigen Machthabern bewahren.
Von der Küste bis ins zackige Hochgebirge regiert seit 23 Jahren eine Partei, deren Macht in einem Mann gebündelt ist: Premier (und Ex-Präsident) Milo Djukanović. Seine Demokratische Partei der Sozialisten ging aus Montenegros Kommunisten hervor. Nun will er das Land in die EU führen.
Hört man Dejan Milovac vom Think Tank MANS zu, ist dafür noch viel zu tun. In seinem Büro hebt Milovac einen Akt in die Höhe: eine dicke Mappe mit 86 Anhängen, belastendes Material gegen einen bekannten Bürgermeister, es geht um krumme Immobiliendeals an der begehrten Adriaküste. 100 solche Dossiers mit explosivem Inhalt hat man bisher an die Behörden übermittelt – doch die Ermittlungen stocken. Die Justiz sei „hochgradig politisch beeinflusst“ von der Regierungspartei, sagt Milovac.
In der Bevölkerung wird Kritik an der Machtfülle hinter vorgehaltener Hand geäußert: Tausende Jobs hängen an dem System. Vor einem Jahr erhoben junge Menschen erstmals ihre Stimme, Protestchöre hallten durch Podgoricas Straßen. Doch die Regierung saß es aus – und die Menschen kehrten dorthin zurück, wo sie heute sitzen: in Cafés.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2013)