Amoklauf: Die Suche nach dem Warum

Suche nach Warum
Suche nach Warum(c) APA/PAUL PLUTSCH (PAUL PLUTSCH)
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Nach dem Amoklauf des Wilderers im niederösterreichischen Annaberg gesellt sich zur Trauer um die vier getöteten Menschen die Frage nach dem Warum.

Es ist Freitag, kurz vor zehn Uhr, und auf die Barette mehrerer Dutzend Uniformierter tröpfelt der Regen. Trotzdem stehen sie schweigend vor der Pfarrkirche in Annaberg in Reih und Glied: Streifenpolizisten, Cobra-Beamte, Rotkreuz-Sanitäter; auch Vertreter anderer Blaulichtorganisationen sind gekommen: Bundesheer, Feuerwehr, die Spezialeinheit Wega. Bunte Standarten ragen aus den Reihen, das offizielle Österreich – und Niederösterreich – hat sich für den traurigen Anlass herausgeputzt. Auch die Innenministerin steht stumm, neben ihr der Landeshauptmann und der Generaldirekor für öffentliche Sicherheit.

Vorbei an dem gespenstischen Spalier ziehen knapp zwei Dutzend Zivilisten – Angehörige und Freunde jener vier Einsatzkräfte, Familienväter allesamt, die ein Verbrecher in der Nacht auf Dienstag hier in Annaberg ermordet hat. Es soll ein kleiner, fast schon privater Gedenkgottesdienst sein, der heute hier von Polizeipfarrer Martin Müller gefeiert wird – abseits der Berichterstattung zu dem Fall.


Suchtrupps im Ödwald. Keinen Kilometer weiter entlang der Mariazeller Bundesstraße in Richtung der niederösterreichisch-steirischen Grenze nehmen gleichzeitig hundert weitere Beamte Aufstellung. Nicht als Ehrengarde, sondern als Suchtrupp. Sie sollen den Ödwald durchkämmen, jenen Forst, durch den der Mörder am Dienstagmorgen vermutlich geflüchtet ist, nachdem er in einem Seitental, der Großen Schmelz, den Cobra-Beamten Johann Baumgartner und Johann Dorfwirth, einen freiwilligen Sanitäter, erschossen hat: Sein Auto war nach dem Durchbrechen einer Straßensperre von der Straße abgekommen; hinter einem Hauseck verschanzt hat sich der Mann dann ein Feuergefecht mit der Spezialeinheit geliefert.

Erst nachdem er einen der Polizisten tödlich an- und den Rettungsfahrer, der ihm zu Hilfe kommen wollte, erschossen hatte, setzte er sich in den Wald ab. Knapp eine Stunde später tauchte der Mann dann nahe der Siedlung Lassingrotte wieder auf – an der Kreuzung zweier Bundesstraßen erschoss er den aus dem Nachbarbezirk zugezogenen Polizisten Johann Ecker in seinem Streifenwagen – wie er das getan hat und ob er dessen Kollegen Manfred Daurer ebenfalls schon hier ermordet hat oder erst nach seiner Flucht in dem Polizeiauto, wird wohl kaum mehr zu rekonstruieren sein. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Zweiten Republik, dass drei Polizisten bei einem Einsatz ums Leben kommen.

Wer die dichten Wälder rund um Annaberg kennt, kann erahnen, dass der Täter sich hier gut ausgekannt haben muss, um mitten in der Nacht schnell seinen Weg durch die Gräben und Hänge des Waldes zu finden. Dass sich, wie das Magazin „Profil“ berichtet, die Verstärkung der Cobra für die drei Beamten an Ort und Stelle erst aus dem 100 Kilometer entfernten Wiener Neustadt auf den Weg machen musste und der Schütze somit Zeit hatte, sich zu orientieren, dürfte geholfen haben. Die Polizisten, die das Unterholz zwischen den Tatorten am Freitag in einer Kette durchkämmen, suchen nach Spuren des Mannes; es geht weniger um Beweise, sondern mehr darum, die Ereignisse jener Nacht zu rekonstruieren – um daraus lernen zu können, wie solche Situationen bei zukünftigen Einsätzen verhindert werden können.

Noch einmal Freitag, noch einmal zehn Uhr Vormittag: Knapp 70 Straßenkilometer weiter, in Großpriel, einem Weiler nahe Melk, rollt ein einzelner Polizeibus langsam über eine Schotterstraße auf das Anwesen von Alois Huber zu – jenem 55-Jährigen, den die Polizei als den lange gesuchten Wilderer ausgemacht hat, der die vier Morde begangen hat, der sich dann hier, in seinem Haus in Großpriel, verschanzt und schließlich eine seiner Waffen gegen sich selbst gerichtet hat. Noch immer ist die Zufahrt mehrere hundert Meter vor dem Grundstück mit rot-weiß-rotem Plastikband abgesperrt, noch immer sind Beamte mit der Durchsuchung der beiden Wohnhäuser und des Betriebsgebiets beschäftigt. „Das wird noch dauern“, heißt es von offizieller Seite.


Waffenlager im Vierkanthof. Man glaubt es, wenn man die auf einer Anhöhe abseits des Ortes gelegene Anlage betrachtet: den Lagerplatz des Holztransportunternehmens, das Huber von seinem Vater übernommen hat, dahinter ein älterer Vierkanthof und daneben ein adrettes Wohnhaus. Während die gesamte Anlage durchsucht wird – am Freitagvormittag schlichten Polizisten etwa einen Holzstapel am Lagerplatz um, auf der Suche nach möglicherweise darunter versteckten Hinweisen –, fokussiert sich die Arbeit der Kriminalisten vor allem auf dieses Wohnhaus. Hier wurde auch der Keller gefunden, in dem Huber rund 100 „Langwaffen“, also Gewehre und Karabiner, zahlreiche Faustfeuerwaffen und Berge von Munition gehortet haben soll – nur sechs davon hatte er angemeldet. Dazu Berge von Jagdtrophäen – viele davon offenbar über Jahre bei Einbrüchen in anderen Jagdhütten zusammengetragen oder eben erwildert.

Was die Polizei hier in den vergangenen Tagen noch gefunden hat, kann einen schon einmal daran zweifeln lassen, wie gut man andere Menschen wirklich kennen kann. Denn wer mit Freunden Hubers spricht – das sind in dem Fall vor allem ehemalige Jagdkameraden –, bekommt das Bild eines zurückgezogenen Eigenbrötlers, der – nach dem Krebstod seiner Frau vor 13 Jahren – die wenige Zeit, die er nicht mit Holztransporten oder in seinem Hof verbrachte, mit seiner großen Leidenschaft, der Jagd – und seinem Schäferhund Burgi, den er am Dienstag selbst erschießen sollte, bevor er sich selbst richtete – füllte: Neben seiner Eigenjagd in der Nähe seines Heimatorts sei Huber jedes Jahr zu anderen Jagden gereist, erzählt ein Bekannter Hubers der „Presse“: „Auf dem Truppenübungsplatz in Allentsteig war er jedes Jahr einmal, in Ungarn und in Russland.“ Einmal soll Huber auf der russischen Kamtschatka vom Helikopter aus Elche gejagt haben, erzählt ein anderer. Möglich, dass er dort die Idee bekommen hat, seine Wilderei vom Auto aus zu betreiben – was unter Jägern normalerweise verpönt ist.

Darüber hinaus sei der 55-Jährige aber „unauffällig“ gewesen und meistens „einfach in seinem Haus gesessen“ – eine Meinung, die auch jene Bewohner von Großpriel teilen, die noch mit Journalisten sprechen; nach den vergangenen Tagen, in denen die knapp 70 Dorfbewohner praktisch permanent von Medien befragt wurden, wollen viele von ihnen einfach in Ruhe gelassen werden. „Wir haben ihn nicht gekannt, und das ist alles“, sagt etwa eine junge Frau, die an der Straße zu Hubers Anwesen wohnt, bevor sie die Tür zuschlägt.

Zu den wenigen Menschen, die Huber auch in den vergangenen Jahren gut gekannt haben, zählten die Jäger Herbert und Richard H. aus dem nahen Schollach. Auch sie wollen „einfach nichts mehr sagen“ – in den vergangenen Tagen haben sie aber in Gesprächen mit mehreren Medien – darunter „Kurier“ und „Bezirksblätter“ – angedeutet, dass Huber in den vergangenen Monaten versucht habe, ins Gespräch über ein „Doppelleben“ zu kommen: „Ich bin schizophren. So geht es nicht weiter, es muss sich etwas verändern“, habe ihm Huber im Zug einer gemeinsamen Motorradfahrt gestanden, erzählte Herbert H. etwa – Huber habe das aber nicht vertiefen wollen. Der Punkt, an dem sich der nunmehrige Vierfachmörder zu verändern begonnen habe, sei im Rückblick der Tod seiner Frau gewesen: „Das hat er nie verwunden.“

Am Dienstag gegen sieben Uhr früh, also bereits nach den vier Morden, als Huber sich bereits in seinem Haus verschanzt hatte, hat er seine Freunde zum letzten Mal angerufen – um quasi eine „Lebensbeichte“ abzulegen: „Ich bin nämlich der Wilderer vom Annaberg“, soll Huber gesagt haben, und „Ich krieg den Trieb nicht mehr los“, wie ihn der „Kurier“ zitiert. Dann gestand er seinen Freunden, was in der Nacht zuvor passiert war: Dass Alois Huber drei Polizisten (und einen Sanitäter) umgebracht hat.

Rund 15 Stunden später fand die Polizei seine Leiche. Die Antwort auf das Warum wird wohl für immer offen bleiben.

Kritik am Einsatz

Nach dem Amoklauf vergangenen Dienstag, bei dem ein Wilderer drei Polizisten und einen Sanitäter erschossen hat, hält die Kritik – zu wenig Einsatzkräfte, veraltetes Material – am Einsatz an. Cobra-Chef Bernhard Treibenreif hat im ORF-Mittagsjournal am Samstag erneut die Kritik am Einsatz des Spezialkommandos bei der Ergreifung des Vierfachmörders Alois Huber zurückgewiesen. Der Täter habe ein völlig atypisches Verhalten an den Tag gelegt. Normalerweise ist nach einem Schusswechsel mit der Polizei in 99,9 Prozent der Fälle schlichtweg ein Fluchtverhalten erkennbar. Offenbar habe der Täter aber mit sich abgeschlossen und es darauf ankommen lassen, so Treibenreif. Der Einsatz sei „prinzipiell planmäßig verlaufen“. In der Erstphase seien „schreckliche Ereignisse vorgefallen“, aber die weiteren Ereignisse, Fahndung und Festnahme seien nicht aus dem Ruder gelaufen. Der Einsatz war lange vorbereitet, die Cobra sei schon in den vergangenen Jahren zugezogen worden. Laut der Tageszeitung „Kurier“ soll der Cobra-Beamte, der durch einen Schuss in die Brust getötet wurde, keine Schutzweste getragen haben. Interne Untersuchen sollen klären, warum.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2013)

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