Das O-Dorf: Die Republik am Rande Innsbrucks

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Das Olympische Dorf wird heuer 50 Jahre alt. Die Stadt feiert das Jubiläum jenes Stadtteils, der bis heute als „Ausländer- und Armenviertel“ verschrien ist, mit einem großen Empfang – mit Olympioniken von damals und heute.

Innsbruck. All das ist Innsbruck: die Altstadt mit der historischen Häuserfassade von St. Nikolaus. Die stilvollen Villen mit den riesigen Gärten in Saggen und Hötting. Die von Zaha Hadid konzipierte Bergiselschanze, die durch ihre Beleuchtung nachts fließend die Farbe ändert und in der Stadt von fast überall aus zu sehen ist. Im vergangenen Jänner hat CNN Innsbruck zu einer der zehn „heißesten“ europäischen Reisedestinationen erklärt. Ohne das Olympische Dorf wäre die Stadt sogar zum attraktivsten Urlaubsziel der Welt gekürt worden, spottete damals ein Tiroler Journalist. Welche Ironie, dass ausgerechnet jenes Viertel, das der 125.000-Einwohner-Stadt wegen seiner Architektur und Bevölkerungsstruktur am ehesten ein großstädtisches Flair verleiht, das schlechteste Image von allen hat. Aber der Reihe nach.

2014 feiert Neuarzl/Olympisches Dorf, wie der Stadtteil korrekt heißt, sein 50-jähriges Bestehen. Am 29. Jänner lädt die Stadt deshalb zu einem großen Olympia-Empfang – zusammen mit der Bevölkerung, Politikern aus dem ganzen Land und Olympioniken von damals und heute. Denn an diesem Tag wurden vor 50 Jahren die Olympischen Winterspiele eröffnet – zwei Wochen nach der Einweihung des Olympischen Dorfes. Die Zusage für die Austragung der Spiele 1964 fünf Jahre zuvor war wie ein Segen. Denn während des Krieges wurden in Innsbruck gut 15.000 von den insgesamt knapp 26.000 Wohnungen zerstört oder beschädigt, lediglich 10.500 blieben unversehrt. Rund 15.000 Menschen waren wohnungslos und hausten in notdürftigen Baracken.

Die Legende der Bocksiedlung

Das Olympische Dorf war der wesentliche Faktor für die relativ rasche Entspannung der Lage. Für die rund 1100 Athleten und 3000 Funktionäre wurden südlich der Schützenstraße fast 700 Wohnungen gebaut. Ohne Ausschreibung, ohne Architektenwettbewerb – die Vorgabe war, schnell und günstig Betonhochhäuser zu errichten, die im Juli 1964 von der Bevölkerung bezogen wurden. Zumeist handelte es sich um ärmere, kinderreiche Familien, da die Wohnungen groß und günstig waren. Ein Teil der 6000 Mieter stammte aus der sogenannten Bocksiedlung. Die Familie Bock rund um ihren Patriarchen Johann (alias der „alte Bock“) war in Innsbruck ebenso berühmt wie berüchtigt. Verschrien als Bettler und Gauner, weil sie zugunsten eines weitgehend selbstbestimmten Lebens auf Komfort und soziale Sicherheit verzichtete, ließ sie sich Anfang der 1920er-Jahre im heutigen Stadtteil Reichenau nieder und baute dort illegal eine Barackensiedlung auf.

Unter ihrem Schutz siedelten sich in der Folge hunderte Familien an – allesamt illegal, da der Grund der Stadt gehörte. Was aber keine große Rolle spielte, denn Johann Bock herrschte in der „Republik am Rande der Stadt“, wie es in einem Zeitungsartikel aus den 1950er-Jahren heißt, wie ein Mafiapate, die Polizei wagte sich kaum in das Viertel. Da der Baugrund in Innsbruck aber immer knapper wurde, besuchte der damalige Bürgermeister Alois Lugger eines Tages persönlich Johann Bock und bot ihm und seinen Leuten günstige Wohnungen im Olympischen Dorf an – wenn sie dafür ihre Baracken aufgaben.

Einigung per Handschlag

Per Handschlag wurden sie sich einig, und die Bewohner der Siedlung zogen in das Olympische Dorf. Wodurch der neue Stadtteil endgültig in Misskredit geriet und beinahe den Ruf eines Ghettos bekam. Obwohl beispielsweise die Kriminalität dort nicht höher war (und ist) als in den anderen Stadtteilen. 1973 bekam Innsbruck erneut den Zuschlag für die Austragung der Winterspiele 1976. Zuvor musste Denver trotz bereits erfolgten Zuschlags passen, weil die Bevölkerung des US-Bundesstaates Colorado gegen die Verwendung von Steuergeldern für Olympische Spiele votiert hatte.  Innerhalb kürzester Zeit wurde unmittelbar neben dem ersten Olympischen Dorf ein zweites (südlich der An-der-Lan-Straße) gebaut – wieder mit rund 650 Wohnungen. Diesmal mit Architektenwettbewerb – weshalb die neuen Hochhäuser auch moderner und qualitativ besser ausfielen. Erneut wurden knapp 5000, vor allem junge, Innsbrucker mit Familie angesiedelt, diesmal aber vermehrt aus der Mittelschicht – weil die Wohnungen teurer waren als im ersten Dorf. In den Jahren danach stieg das Ansehen des Stadtteils. Bereits ab 1970 entstanden erste Musikkapellen und Sportklubs, aufwendige Bälle wurden veranstaltet, das „O-Dorf“, wie die Innsbrucker ihren Stadtteil nennen, bekam eine Seele. 1984 wurde schließlich der Verein VNO (Verband Neuarzl/Olympisches Dorf) gegründet, ein Dachverband für alle Kultur-, Sport- und Bildungseinrichtungen. Parallel dazu wurden im Rahmen des sozialen Wohnbaus weitere Hochhäuser (auch Eigentumswohnungen) gebaut und Familien angesiedelt. „Das Gesellschaftsleben wurde lebendiger“, sagt VNO-Obmann und ehemaliges ÖOC-Mitglied Friedl Ludescher, ein O-Dörfler der allerersten Stunde. „Auch die Wohnqualität stieg, die älteren Gebäuden wurden saniert.“

„Der Geist von Olympia“

In den 1990er-Jahren kamen schließlich zehntausende, vornehmlich türkische, Gastarbeiter nach Österreich. Die Stadtregierung hielt es damals für eine gute Idee, viele von ihnen im O-Dorf unterzubringen. „Damit sie unter sich sein können“, sagt Ludescher. „Es mag gut gemeint gewesen sein, war aber die falsche Entscheidung. Integration kann nur funktionieren, wenn bei der Vergabe von Stadtwohnungen auf eine Durchmischung geachtet wird.“ Und obwohl es in diesem Punkt mittlerweile auch bei der Stadt zu einem Umdenken kam, gilt das Olympische Dorf bis heute bei vielen Innsbruckern als „Ausländer- und Armenviertel“. „Es ist schwer, diesen Geruch wegzubekommen“, sagt Ludescher. „Dabei entspricht er nicht der Realität. Die Lebensqualität hier zählt zu den besten in ganz Innsbruck. Nirgendwo gibt es so viele Grünflächen und Sportmöglichkeiten.“

Der größte Trumpf des Stadtteils sei die Internationalität und der Zusammenhalt der Bevölkerung. „Die Gemeinschaft hier ist mustergültig“, betont Ludescher. „Bei uns leben Menschen aus 55 Nationen.“ Für ihn hat es das O-Dorf geschafft, die Olympische Charta – ein friedliches Zusammenleben aller Menschen, egal welchen Geschlechts, welcher Religion oder Herkunft – nachhaltig zu verwirklichen. „Der Geist von Olympia ist hier zu Hause“, so Ludescher. „Und den werden wir am 29. Jänner gebührend feiern.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2014)

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