Das Hirn durchlüften am Semmering

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FEATURE �150 JAHRE SEMMERINGBAHN�(c) APA (Tourismusregion NOE SUED-ALPIN)
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Schnitzler verliebte sich hier in die Wirtin Olga, und Sigmund Freud fand den "Fall Katharina". Der Semmering ist bis heute Wiens erste Anlaufstelle, wenn es darum geht, den Kopf freizubekommen.

Den Kopf frei bekommen, die Sinne schärfen, alles Überflüssige abstreifen, Körper und Seele entgiften, das ist das Ziel eines Ausflugs in das Semmeringgebiet. Um acht Uhr früh geht es los, in Wien Meidling. Entlang der legendären Südbahnstrecke ist nach einer Zugstunde durch flaches Land der erste voralpine Bahnhof erreicht, Payerbach-Reichenau, das Zentrum der „Zauberberge“, wie es in der der lokalen Tourismuswerbung heißt.

Tatsächlich übt die Semmering-Landschaft in ihrer kultiviert-klassischen Ausformung einen ungebrochenen Zauber auf kopflastige Städter aus. Zu jeder Jahreszeit. „In den Bergen bekommen die Gedanken ihren freien Lauf, und es gibt eigentlich keine größere, wesentliche Entscheidung in meinem Leben, die ich nicht dort getroffen hätte”, sagte der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl einmal.

Vom Payerbacher Bahnhof flaniert es sich gemütlich in einer halben Stunde via Fischerpromenade und Kurhauspromenade hin zum Reichenauer Kurpark, wo auch die Schauspielerin Chris Pichler anzutreffen ist. Sie verbringt jeden Sommer einen ganzen Monat in Reichenau, weil sie dort Theater spielt. In ihrer Freizeit sucht sie Eierschwammerln, Steinpilze, Butterpilze, Boviste und Maroniröhrlinge. „Ich muss nur immer sehr aufpassen, dass ich mich nicht verirre, damit ich auch rechtzeitig zur Vorstellung komme“, sagt sie. Theaterspielen in Reichenau sei anders als im distanzierten städtischen Betrieb. Hier auf dem Land stecke das Publikum den Schauspielern kleine Briefchen zu, bringe Bonbonnieren und gebe Feedback.

Psychologie am Berg. Kreativität und der Semmering, das schien schon immer gut zu passen: Nächster Stopp ist der Thalhof, wo Arthur Schnitzler innerhalb von nur fünf Tagen „Leutnant Gustl“ geschrieben hat. Schnitzler hat die Wirtin Olga Waissnix zur Berühmtheit gemacht, allein dadurch, dass er sich in sie verliebte. Und nicht nur ihn zog es auf den Semmering. Auch ein anderer berühmter Wiener kam regelmäßig: Sigmund Freud. „Bis zu dreimal wöchentlich zog es den Doktor über den Thörlweg auf die Rax“, erzählt Monika Pessler, die neue Direktorin des Wiener Sigmund-Freud-Museums.

Die Kurzausflüge und Sommerfrischen in der Umgebung von Wien machten einen wesentlichen Teil des Familien- und des beruflichen Lebens von Sigmund Freud aus. Mit der Südbahn begab sich der Doktor nach Reichenau, wo seine Wanderungen auf Rax und Schneeberg ihren Ausgang nahmen. Meist logierte Freud im Thalhof, 1894 in einer gemieteten Villa in der Eichengasse in Maria Schutz. „Diese Ausflüge waren auch wichtig für die Theoriebildung Freuds,“ erläutert Monika Pessler, und sie zitiert den berühmten „Fall der Katharina“: Am Otto-Schutz-Haus hatte ein junges Mädchen Sigmund Freud angesprochen. Sie laboriere an einem nervösen Leiden und bitte ihn, sie zu heilen. Man schrieb das Jahr 1891. „Es interessierte mich, dass Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern sehr wohl gedeihen sollen, und ich fragte das Mädchen also weiter,“ berichtet Sigmund Freud von seinem Rax-Fall, „ich bin ihr ohnehin Dank dafür schuldig, dass sie so viel leichter mit sich reden lässt als die prüden Damen in meiner Stadtpraxis, für die das natürliche Sexualverhalten schändlich ist.“ Das Mädchen vom Land schien ihm viel geeigneter als die Frauen in der Stadt für seine Gesprächsanalyse.

Ein Tier zersticht die Hand. Freud war mit seinem Freund Wilhelm Fließ oft unterwegs. Einmal erzählte er, wie ihm ein Tier die rechte Hand zerstochen habe, sodass er kaum schreiben konnte. „Das Auslüften und Den-Kopf-Freibekommen fließt auch immer in Freuds Korrespondenzen ein, in seine Postkarten von der Rax“, sagt Monika Pessler.

Von Reichenau geht es durch die liebliche Landschaft immer mit Blick auf die Rax über Erlach nach Kleinau. Auch hier ist Freude zu Hause. Am Knappenhof in Kleinau hat Brigitte Klenner-Kaindl, die Betreiberin des stilvollen Landguts, ein kleines Freud-Museum errichtet. Aus dem Freud-Museum in der Wiener Berggasse kamen Fotos, ein „Sigmund Freud“ in Lebensgröße ist zu sehen, einige Erstausgaben seiner Werke sowie der Film, in dem Catherine Deneuve Freuds berühmte Patientin Marie Bonaparte spielt. Auch das Londoner BBC-Interview ist zu hören, das einzige Sprachdokument Freuds, in dem er 1939 feststellte: „I cannot really recommend the Gestapo.“

Im Knappenhof werden als Hommage an Freud dessen Lieblingsspeisen serviert, Zwiebelrostbraten und Doboschtorte. „Gut essen, in die Sauna gehen und auf die Rax hinaufwandern, das ist das Konzept des Knappenhofs, eines Erholungshotels zum Entgiften“, sagt Brigitte Klenner-Kaindl, die ihren Traum für die Psyche verwirklicht hat, und zwar mittels einer Finanzspritze von Bauunternehmer und Ex-Politiker Hans Peter Haselsteiner.

Zwei- bis dreimal im Jahr ist Haselsteiner auch selbst am Knappenhof anzutreffen: „Reichenau und der Semmering haben schönere und bessere Zeiten gesehen. Obwohl die Orte selbst an Schönheit nichts eingebüßt haben, ist es heute schwieriger, sie in den Fokus zu rücken“, sagt er. Für Brigitte Klenner-Kaindl besteht die entgiftende Wirkung am Knappenhof im Herunterkommen vom Wiener Stress durch die Natur, die gute Luft und die Nebelfreiheit auf 800 Höhenmetern. „Wir drosseln hier die Geschwindigkeit des Lebens,“ sagt sie, „der Knappenhof lädt ein zum Bleiben, mit Haubenküche, Sauna, Dampfbad und Terrasse – mehr geht gar nicht!“

Ein Tag am Semmering

Anfahrt. Ab Wien Meidling fahren stündlich Züge nach Payerbach-Reichenau. Fahrtdauer: circa eine Stunde.

Buchtipp. „Liebe im Grünen, Kreative Sommerfrischen im Schwarzatal und am Semmering“. Von Lisa Fischer, Fotos von Pedro Salvadore. Edition Mokka, 2014.

Essen und Schlafen. Looshaus am Kreuzberg, Villa auf dem Land in städtischem Stil, Kreuzberg 60, 2650 Payerbach

Entspannen im Knappenhof in Kleinau mit Haubenküche, Sauna, Dampfbad und Terrasse 34, 2651 Reichenau/Rax

Kurhaus Thalhof. Das Kurhaus in Reichenau an der Rax war um 1900 Treffpunkt der Elite Wiens. Schnitzler und Freud residierten hier. In den vergangenen 16 Jahren wurden hier im Sommer Schnitzler-Werke aufgeführt. Nun ist offen, wie es weitergeht. Denn der Vertrag mit Intendantin Helga David wurde heuer nicht verlängert.

Hotel Marienhof ist ein stilvolles Grandhotel Jahrgang 1864, in Reichenau mit Lounge-Bar, in der sich gut plaudern lässt. Hauptstraße 71–73

Skifahren am Semmering: Zauberberg.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2014)

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