Graz: Gutachter-Groteske um Amokfahrt

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Der für die Justiz unangenehmste Fall ist eingetreten: Für den Grazer Amokfahrer liegen zwei gegensätzliche psychiatrische Gutachten vor. Nun muss ein drittes her.

Graz. 20. Juni 2015: Eine blutige Amokfahrt trifft die steirische Landeshauptstadt mitten ins Herz. Drei Menschen sterben, darunter ein vierjähriger Bub. Dutzende werden teils schwerst verletzt. Der Lenker des Autos, Alen R. (26), lässt sich nach der Tat festnehmen. Zeugen sagen: R. sei nicht irgendwohin gerast, sondern habe gezielt Menschen, darunter den Grazer Bürgermeister, Siegfried Nagl, anvisiert. Dies deutet auf bewusstes Handeln hin. Dementsprechend stellt später ein psychiatrischer Gutachter fest: R. sei zurechnungsfähig. Aber nun soll das Gegenteil wahr sein: R. soll doch nicht zurechnungsfähig sein.

Wie kommt es zu diesem Widerspruch? Einfache Antwort: Zwei von der Justiz beauftragte Gutachter haben eben nicht dieselbe Meinung zum Gesundheitszustand des Amokfahrers. Dies wird nun (falls nicht einer der beiden noch überraschend umschwenkt) zur Bestellung eines dritten Psychiaters führen. Da dieser Experte einem seiner beiden Vorgänger wird recht geben müssen, steht es dann – so oder so – in Summe zwei zu eins.

Warum ist die Justiz überhaupt in dieser misslichen Lage? Mit Beginn des Strafverfahrens gegen R. bestellte der Staatsanwalt wie üblich ein psychiatrisches Gutachten (ein terroristischer Hintergrund der Tat – R. war mit seinen Eltern als bosnisches Flüchtlingskind nach Österreich gekommen – gilt bis heute als äußerst unwahrscheinlich). Als es dann um die Frage der U-Haft ging, musste (das ist gesetzlich vorgeschrieben) ein Haft- und Rechtsschutzrichter zugezogen werden.

Richter beschritt eigenen Weg

Dieser konnte freilich nicht wissen, ob er R. einfach einsperren oder in eine psychiatrische Abteilung bringen lassen solle. Kurzum: Der Richter brauchte einen Gutachter. Anstatt den Sachverständigen zu nehmen, den der Staatsanwalt bereits beauftragt hatte, den in Graz tätigen Psychiater Peter Hofmann, wählte er einen neuen: den ebenfalls in Graz angesiedelten Universitätsprofessor Manfred Walzl. Letzterer stand übrigens 2015 im Mittelpunkt einer Debatte: Er hatte zuletzt laut Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Neos innerhalb eines Jahres nicht weniger als 365 Gutachten erstellt.

Jedenfalls kam es, wie zu befürchten war: Zwar meinen beide Herren, dass R. die Tat „unter dem Einfluss einer geistigen und seelischen Abartigkeit höheren Grades“ begangen habe, aber die zentrale Frage der Zurechnungsfähigkeit wird von Hofmann verneint und von Walzl (sein Gutachten gibt es schon seit Dezember) bejaht. Dass die Bestellung eines weiteren Mediziners zu Verzögerungen – und auch zu Kopfschütteln bei Beobachtern – führt, liegt auf der Hand.

Wenn aber der Richter keinen eigenen Gutachter bestellt hätte, gäbe es nur die Meinung des Psychiaters der Anklage. Und der sagt eben: Unzurechnungsfähigkeit. Für den Amokfahrer hätte dies „nur“ eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher bedeutet. Aus einer solchen Anstalt kann man im günstigsten Fall schon nach einem Jahr als geheilt entlassen werden. Es ist also der „Richter-Gutachter“, der für die Pattstellung sorgt. Wird R. letztlich als zurechnungsfähig eingestuft, droht eine Mordanklage. Und damit bis zu lebenslange Haft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2016)

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