Der Papst als letzter großer Weltdenker

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Benedikt XVI. ist nicht der Übergangspapst, als den ihn manche vorschnell abgetan haben. Er hat dem Amt in zweieinhalb Jahren seinen sehr eigenen Stempel aufgedrückt. Eine Zwischenbilanz des Pontifikats vor dem Österreich-Besuch.

Als Joseph Ratzinger am Abend des 19. April 2005 als neugewählter Papst auf die Loggia des Petersdoms trat und sagte, er habe den Namen Benedikt gewählt, löste er eine gewisse Ratlosigkeit aus. Mancher konnte mit dem Namen nichts anfangen, dessen hoher Anspruch an den, der ihn sich wählt, nicht verstanden wurde. Kaum jemand wusste, dass mit dem Namen auf eine Gründerfigur Europas als Raum des Geistes und der Kultur verwiesen wird. Andere waren schnell mit der Diagnose bei der Hand, ein fast Achtzigjähriger könne doch wohl nur ein Übergangspapst sein.

Allerdings musste man sich schon damals fragen, für wen oder für welchen Typ die Kardinäle den Posten freihalten hätten wollen. Wenn es den gäbe, hätten sie ihn gleich wählen können.

Am Anfang schien der erste deutsche Papst seit 500 Jahren diesem Urteil auch zu entsprechen. Keine Rede, in der er nicht seinen „großen Vorgänger“ erwähnte, in der er nicht die Kontinuität beschwor. Aber das war mehr der Höflichkeit geschuldet. Schon bei seiner ersten Predigt, die er auf Latein hielt, was manche gleich für ein Omen kommenden Rückschritts hielten, setzte der freundliche alte Herr mit der leisen, etwas zirpenden Stimme seine eigenen Akzente, die seither immer deutlichere Konturen annahmen. „Ich brauche keine Art von Regierungsprogramm vorzulegen“, sagte der gewählte Papst ohne falsche Bescheidenheit.

Gegen Nihilismus, Skeptizismus

In auffallender Eile – so als ob er fürchtete, nicht mehr genug Zeit zu haben – veröffentlicht Benedikt XVI. seither ein Dokument nach dem anderen, hält er eine Rede nach der anderen, predigt er und schreibt dazwischen sogar noch ein großes Buch. Allein die für einen alten und nicht ganz gesunden Mann enorme Arbeitsbelastung und die dahinter steckende Disziplin nötigen Respekt ab. Freilich weiß er auch mit seinen Kräften hauszuhalten. Öffentliche Auftritt hat er drastisch reduziert, Reisen finden nur selten und in wohlausgewählte Destinationen statt. Das mag den Österreichern zwar schmeicheln, aber eine dreitägige Fahrt von Rom nach Wien und Mariazell darf kaum als große Reise gelten.

In seiner Predigt zur Amtseinführung ließ er schon deutlich seinen Blick auf die Aufgaben des Amts erkennen. Er hat einen liebevollen, aber gleichwohl illusionslosen Blick auf die Welt, die immer schon und auch jetzt „im Argen liegt“. Von der „Wüste der Armut, der Wüste des Hungers und des Durstes, der Wüste der Verlassenheit, der Einsamkeit, der zerstörten Liebe“, sprach der neue Papst, der seither immer mehr in die Rolle eines Weltdenkers hineingewachsen ist. Niemand kann für Anliegen der gesamten Menschheit soviel Gehör finden wie er.

Den Kern der heutigen Krise erkennt er aber in Europa. Vor 500 Priestern der Diözesen Belluno-Feltre und Treviso stellte er kürzlich mitten in seinem Sommerurlaub in den italienischen Alpen eine kulturhistorische Betrachtung an. Zwei „Kulturbrüche“ seien die Ursachen für den heutigen Zustand der westlichen Welt. Die Kulturrevolution von 1968, die er als Universitätsprofessor hautnah miterlebt hat und den Zusammenbruch des Kommunismus 1989. Dieser habe nicht zur erhofften „Rückkehr zum Glauben“, sondern zu einem „Absturz in den Nihilismus“ geführt. Der postmoderne Skeptizismus, er nennt ihn Relativismus, lehne jede Wahrheit ab und wer einen Wahrheitsanspruch stelle, sei schon intolerant. Das ist das Thema, das ihn seit vielen Jahren in unterschiedlicher Weise beschäftigt.

Dagegen setzt der Papst auf die Selbstvergewisserung des katholischen Christentums, auf Klärung seiner Positionen für die globalen geistigen Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts. Man kann in seinen Äußerungen als Papst und in allen anderen vatikanischen Dokumenten der zweieinhalb Jahre eine klare Konzeption erkennen: In drei großen Kreisen will er den Glauben der Kirche präziser definieren und den eigenen Anhängern ins Gedächtnis rufen wie den übrigen Menschen erklären. Und das durchaus in missionarischer Absicht.

Der erste ist die Gottesfrage. Ihr war sein größtes bisheriges Werk gewidmet, die Enzyklika: „Gott ist die Liebe“. Nur ein Verständnis von Gott als die Liebe kann verhindern, dass Religion gewalttätig wird. Diese Linie des Denkens setzte er in der Regensburger Rede, die er als Diskussionsaufforderung an den Islam, aber auch an den Protestantismus verstanden haben will, auf besonders beeindruckende Weise fort.

Leidenschaftlicher Aufruf

Gegen die Vorstellung eines gewalttätigen und absolutistischen Gottes stellt er den kühnen Gedanken der „Vernunft Gottes“ und der Vernünftigkeit des christlichen Glaubens. „Am Anfang war das Wort“ – oder die schöpferische Kraft der Vernunft.

Der zweite Kreis handelt von Jesus Christus. Wer ist er, an dem der christliche Glaube seinen Angelpunkt hat? In seinem schönen Buch „Jesus von Nazareth“, für das er sogar schon einen zweiten Band ankündigt, zeichnet der Papst einen dramatischen Befund: „Schon weit ins allgemeine Bewusstsein der Christen“ sei die Annahme eingedrungen, man könne eigentlich nichts Sicheres über Jesus wissen. Dagegen ruft Benedikt leidenschaftlich das Zeugnis des Neuen Testaments als Ganzem auf: Jesus ist der Sohn Gottes und hat sich auch als solcher verstanden. Damit reißt der Papst seine Weltreligion aus den Verflachungen eines sich bloß humanitär verstehenden Projekts. In diesen Gedankenkreis gehört auch die Rede vor den lateinamerikanischen Bischöfen, in der er seine Amtsbrüder vor einer gutgemeinten, aber romantisch-verklärenden Sicht auf die indigenen vorkolumbianischen Religionen warnte und ihnen den Befreiungscharakter des Christentums ins Gedächtnis rief. Es war wohl kein Zufall, dass er das ideologisch aufgeladene Wort „Befreiung“ verwendete und Jesus als den Befreier bezeichnete. Dafür hat er übrigens ausdrückliches Lob vom „Indianerbischof“ Kräutler bekommen.

Unterscheidung der Geister

Was bedeutet diese Unterscheidung der Geister für den vielbeschworenen Dialog der Religionen? Ist die Herausarbeitung der Unterschiede zwischen den Religionen und auch zwischen den christlichen Konfessionen, nicht ein Hindernis für den Dialog? Der Papst ist der Überzeugung, dass das Gegenteil der Fall ist, und er hat die Evidenz für sich. Gilt doch auch im Politischen, dass die gegenseitige Berechenbarkeit eine Bedingung des Friedens ist. Die Thematisierung der Wahrheitsfrage, für die Ratzinger/Benedikt steht, ist programmatisch und denkerisch begründet: „Begegnung der Religionen ist nicht durch Verzicht auf Wahrheit, sondern nur durch ein tieferes Eingehen in sie möglich“, stellt er klar. So wird das Insistieren auf der Wahrheitsfrage geradezu ein Dienst am Frieden. Die klare Definition des Eigenen soll eine Aufforderung an die anderen Religionen sein, sich ebenfalls einem Prozess der strengen Selbstreflexion zu unterziehen.

Schließlich – und damit hat er sich am meisten Feinde gemacht und Kritik eingehandelt – traf er, bzw. ließ sie treffen, Klarstellungen in kirchlichen Fragen. Er erlaubte die Wiedereinführung des tridentinischen Messritus. Damit ist sicher nicht die breitflächige Rückkehr zur vorkonziliaren Messform beabsichtigt, die ja nicht mehr viele Anhänger hat. Eher dürfte er die pädagogische Absicht verfolgen, indirekten Druck auf Priester und Gemeinden auszuüben, den postkonziliaren Ritus mit mehr Sorgfalt, Würde und Formbewusstsein zu praktizieren.

Als eher überflüssig wird man die Wiederholung einer Passage aus der Erklärung „Dominus Jesus“ über die defiziente Kirchlichkeit der aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften ansehen müssen. Die Entrüstung war in katholischen Kreisen größer als bei den Evangelischen, die das viel gelassener genommen und darin ihre eigene Abgrenzung zu den Katholiken klar herausgearbeitet gefunden haben. Ohnehin müssten sie sich ihre Kirchlichkeit nicht vom Papst definieren lassen.

Gestählt und gewitzt aus seinem jahrzehntelangen Leben in einem kommunistischen System hatte Ratzingers Vorgänger die Vorsicht, die man in Diktaturen lernt und umgab sich mit ebenso gewitzten Beratern und Managern. Ernste Fehler sind ihm bei seinen unzähligen Auftritten in Dutzenden von Ländern kaum je passiert; und wenn, dann fing er sie mit Intuition und Charme ab. Solche Erfahrungen fehlen Benedikt und seiner Umgebung und das hat mitunter peinliche und für das Amt und die Kirche auch schädliche Folgen. Er und seine Berater versäumen manchmal die politische Absicherung von Äußerungen und können offensichtlich deren mögliche Wirkungen nicht antizipieren. Auch unterschätzen sie mediale Kettenreaktionen.

Besonders fatal war das bei der epochalen Regensburger Vorlesung, die auch dazu gedacht war, die muslimische Welt zu einem Überdenken ihres Gottesbegriffs zu animieren. Im Sturm der selbstverständlich gesteuerten Empörung ging jede Möglichkeit einer vernünftigen Debatte unter. Aber seit dem Karikaturenstreit hätte man vorhersehen können, dass ein bloßes Zitat über die Gewalttätigkeit des Islam dem Papst selbst in den Mund gelegt würde.

Ähnlich erging es Benedikt mit seiner Rede vor den Bischöfen im brasilianischen Aparecida. Die Berater einer Weltpersönlichkeit sollten wissen, dass es für so jemanden keinen Auftritt gibt, der nicht öffentlich ist.

Schlechtes Management

Über die christliche Mission in Lateinamerika zu reden, ohne auch deren Schattenseiten entsprechend zu bedauern, ist mehr als ein Erfordernis der politischen Korrektheit. Dabei hat es Schuldbekenntnisse des Vorgängers schon gegeben, an die man sich hätte halten können. Dass der Papst selbst das alles bedauert, darf man ihm glauben, er steht auch nicht an, Versäumtes oder falsch Verstandenes zu korrigieren, aber das macht den Schaden meist nicht mehr gut.

Ein kleines Beispiel schlechten politischen Managements in der Umgebung des Papstes haben auch die Österreicher erlebt. Eine Ausflugsfahrt aus dem Urlaub in Italien nach Maria Luggau darf man nicht ankündigen, um sie dann absagen zu müssen. Den Hang zur Indiskretion bei österreichischen Beamten nicht vorherzusehen oder von den Medien Zurückhaltung zu erwarten, ist mehr als naiv. Vielleicht sollte sich der Papst als Sekretär statt eines gescheiten bayerischen Theologen einen gerissenen polnischen Bischof zulegen.

Was kann noch kommen? Über kirchliche Strukturfragen, über Frauen, Zölibatsverpflichtung, über ethische Probleme – von den Wiederverheirateten bis zur Aids-Vorbeugung – wurde noch nicht geredet. Das muss nicht heißen, dass diese Dossiers auf Dauer verschlossen bleiben. „Darüber müssen wir noch viel nachdenken“, lautet eine der Wendungen Benedikts, wenn davon die Rede ist. Das kann auch bedeuten, der Denkprozess sei schon weit gediehen. Überraschungen sind jedenfalls nicht ausgeschlossen.

Überraschungen sind auch bisher schon passiert. Die größte war, dass Joseph Ratzinger gar nicht erst in die Schuhe eines Papstes hineinwachsen musste. Sie passten ihm sofort. Damit haben die 111 Kardinäle, die ihn angeblich gewählt haben, offensichtlich gerechnet. Beim Weltjugendtag in Köln gelang es ihm, genauso gut Kontakt zu den Jugendlichen zu finden wie sein Vorgänger, für den sie eigentlich die Reise gebucht hatten. Inzwischen hat er sich zu einem wahren Magneten für Pilger entwickelt. 3,5 Millionen haben voriges Jahr an Audienzen teilgenommen, zum Angelusgebet an jedem Sonntag strömen durchschnittlich 50.000 Menschen auf den Petersplatz, um eine Predigt von ihm zu hören. Beiläufiges bekommen sie nie hören. Vielleicht kommen sie deshalb.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2007)


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