Als Ratzinger für Krätzl ministrierte

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Der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl war Stenograf des Konzils. Leidenschaftlich plädiert er dafür, dessen gesamtes Potenzial zu heben – und warnt seine Kirche vor einem Zurück.

Die Presse: Sie haben das Zweite Vatikanische Konzil ganz hautnah als Stenograf 1962 bis 1963 erlebt. Wie können Sie einem Jugendlichen heute die Bedeutung dieser Versammlung erklären?

Helmut Krätzl: Ich würde beginnen zu erzählen, wie ich die Kirche vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil erlebt habe. Die Liturgie war eine reine Priesterliturgie, in einer Sprache, die fast niemand verstanden hat. Die Kirche ist als hierarchische Größe gesehen worden, in der die Laien die Schäfchen sind, die von den Hirten geleitet werden. Furchtbar war rückblickend gesehen der Selbstanspruch der römisch-katholischen Kirche allen anderen christlichen Kirchen gegenüber. Die Kirche Jesu Christi wurde von Pius XII. als deckungsgleich mit der römisch-katholischen Kirche gesehen. Es bestand eine völlige Abgrenzung den anderen Kirchen gegenüber. Man durfte offiziell nicht miteinander diskutieren und schon gar nicht miteinander beten. Ein Gespräch mit den anderen Weltreligionen war überhaupt undenkbar. Die Moraltheologie war völlig kasuistisch sehr stark auf Sünden gegen die Keuschheit zugespitzt. Das waren große Defizite. Für mich hat die Kirche durch das Konzil einen so großen Sprung nach vorn gemacht, dass die Öffnung heute noch wirkt.


Ging das Konzil tatsächlich allein auf Papst Johannes XXIII. zurück, oder war doch der Reformstau schon zu groß geworden?

Die Kirche war fast triumphalistisch und hat gar nicht gemerkt, dass eine Moderne heranwächst, die sich vieles an Einfluss und Lehre der Kirche nicht mehr gefallen lässt. Das Konzil war eine reine Entscheidung von Papst Johannes XXIII. Er hat ja zum Schrecken der Kurie am 25. Jänner 1959 das Konzil angekündigt. Dabei war ich, als ich am 28. Oktober 1958 zu Studien zufällig in Rom war, auf dem Petersplatz mit den anderen enttäuscht, dass nach dem hehren Pius XII. ein alter, korpulenter Mann Papst wird. Wir dachten: Es geht zurück ins Mittelalter. In wenigen Tagen hat Johannes XXIII. gezeigt, dass er nicht gewillt ist, als Übergangspapst zu fungieren, wie das die Kardinäle wollten.


Die meisten können sich erinnern, wo und wie sie von großen Ereignissen, wie beispielsweise den Anschlägen des September 2011, erfahren haben. Wie haben Sie 1959 auf die Ankündigung des Konzils durch den Papst reagiert?

Ich war damals Zeremoniär bei Kardinal König. Die Ankündigung kam für uns überaus überraschend. Man hat gar nicht gewusst, wie ein Konzil überhaupt funktionieren soll. Die letzte derartige Versammlung war ja im Jahr 1870 zu Ende gegangen. Erstaunen und die Erwartung der Welt waren jedenfalls generell groß. Zwei Gestalten haben damals einer Gesellschaft, die während des Kalten Krieges oft in Angst gelebt hat, Hoffnung gegeben: der junge John F. Kennedy und der alte Roncalli (Angelo Giuseppe, bürgerlicher Name von Papst Johannes XXIII., Anm.).


Wie haben Sie Johannes XXIII. persönlich erlebt?

Ich war mindestens dreimal mit Kardinal König bei ihm in Privataudienz. Der Papst hat mich mit seiner überaus menschenfreundlichen Art tief beeindruckt.


In der Kurie hat er sich aber nicht sehr viele Freunde gemacht.

Die Kurie war von Anfang an völlig dagegen, ein Konzil abzuhalten. Die Kurie hat das Gespür gehabt, dass eine Ära zu Ende geht. Unter Papst Pius XII. sind viele Theologen noch gemaßregelt worden. Es gab viele Feinde, gegen die sich die Kirche gewendet hat: Das waren die anderen Kirchen, die anderen Religionen, das war die Welt, die als Widerpart gegen das Spirituelle empfunden wurde.

Viele der vorher noch gemaßregelten Theologen waren ja dann beim Konzil plötzlich einflussreiche Berater von Bischöfen.

Ja, das war das Erstaunliche. Damals haben die deutschen, französischen, belgischen, niederländischen, österreichischen Bischöfe, schon in den Desideraten (Wünschen; Anm.) für die Bearbeitung durch das Konzil Themen und Anliegen eingebracht, die vorher in Bewegungen bestanden haben. Ich erinnere an die ökumenische Bewegung, die liturgische, die Bibelbewegung.

Wie haben Sie Joseph Ratzinger erlebt, den heutigen Papst und damaligen Berater des Kölner Erzbischofs Josef Frings?

Kardinal Frings war fast blind und wurde von zwei jungen Priestern geführt, von Hubert Luthe, dem späteren Bischof von Essen, und Joseph Ratzinger. Wir sind am Rande des Konzils oft am Abend in der Anima (dem deutschen Priesterkolleg; Anm.) zu Gesprächen zusammengetroffen. Er war überaus bescheiden und sehr kollegial. Jeder Priester hat damals an einem Seitenaltar in der Anima Messen gehalten, und wir haben uns dabei gegenseitig ministriert. Ratzinger hat als Theologe schon sehr früh publiziert. Wir haben ihn gern gelesen, weil er sich für fortschrittliche Theologie interessiert hat und weil er lesbar war – im Unterschied zu dem schwer lesbaren Karl Rahner. Für uns war Ratzinger eine Autorität.


Wie stark war über Kardinal Frings der Einfluss Ratzingers auf Konzilsdokumente?

Überaus stark und auch über Kardinal König hat er viel eingebracht. Zu Wort melden konnten sich in der Aula selbst ja nur die Konzilsväter, die Bischöfe. In den Kommentaren der damaligen Zeit ist nachzulesen, dass Ratzinger fast euphorisch darüber war, was das Konzil Neues gebracht hat.


Wie gefährlich waren die Auseinandersetzungen zwischen Bewahrern und Reformern?

Eine kleine Minorität, die von der Kurie gekommen ist und alle Schliche gekannt hat, hat Widerstand geleistet. Während der Debatte wurde von dieser Seite öfter eingewendet: von höchster Stelle heiße es dieses und jenes. Paul VI. hat nach dem Tod von Johannes XXIII. in seiner ersten Enzyklika den Dialog betont. Bis heute wird der Dialog in der katholischen Kirche ja leider eher scheel angesehen. Paul VI. hat dann, um eine größere Zahl von Stimmen für Dokumente zu erlangen, Texte geglättet und dadurch beiden Seiten Interpretationsspielräume eröffnet, was bis heute weiterwirkt und Gegenstand von Auseinandersetzungen ist.

Welche Potenziale des Konzils wurden bis heute nicht genützt?

Eines der großen Potenziale, das überhaupt nicht gehoben wurde, ist die Kollegialität der Bischöfe. Die besagt, dass die Bischöfe eine Mitverantwortung für die Regierung der Weltkirche haben – immer mit dem Papst, nicht ohne Papst. Daraus ist nichts geworden. Paul VI. hat die römische Bischofssynode kreiert, in der aus jeder Bischofskonferenz der gesamten Weltkirche ein Teilnehmer dabei ist. Er hat erklärt, die Bischöfe hätten zwar dabei nur beratende Stimme, aber der Papst könnte ihnen auch in bestimmten Angelegenheiten beschließendes Stimmrecht geben. Das ist nie geschehen.


Orten Sie trotz aller verbalen Bekenntnisse zum Zweiten Vatikanischen Konzil ein Zurück?

Es gibt vereinzelt tatsächlich ein Zurück. Die außerordentliche Form der Messe (vorkonziliarer Ritus; Anm.), die der Papst wieder gestattet hat, zu feiern, ist ein Zurück hinter das, was die Liturgieerneuerung des Konzils wollte. Da stehen einander zwei Kirchenbilder gegenüber. Ein Zurück gab es auch in der Frage der verantworteten Elternschaft. Aus dieser als Befreiung empfundenen Festlegung wurde die Einengung auf eine Methode der Empfängnisregelung, die für etliche nicht lebbar ist. In dieser Frage hat sich das Lehramt der Kirche sehr viel an Vertrauensverlust eingehandelt. Der Kirche wird heute in Fragen der Ehemoral weitgehend keine Kompetenz mehr zugeschrieben.

Heute ist oft von Reformstau in der katholischen Kirche die Rede. Erinnert die heutige Situation nicht an die Zeit vor dem Konzil?

Ja sicher, weil auch der Zentralismus wieder wächst. Natürlich muss man bedenken: Es hat Ende der 1970er-, Anfang der 80er-Jahre starke Einbrüche im kirchlichen Leben gegeben, was Teilnahme an der Sonntagsmesse und Zahl der Priesterberufungen betrifft. Es ist aber ein ungeheurer Unsinn, dafür das Konzil verantwortlich zu machen. Der Grund ist, dass die bis dahin geschlossene Gesellschaft in den Jahren 1968 und folgende plural geworden ist. Die katholische Kirche ist als eine von vielen anderen Institutionen in Konkurrenz gestanden. Wo stünden wir heute, wenn es das Konzil nicht gegeben hätte? Dadurch, dass die Zahl der Katholiken sinkt, besteht die Gefahr einer Identitätsangst mit der Tendenz, sich einzumauern.


In 50 Jahren hat sich der Wandel weiter dramatisch beschleunigt. Wäre es nicht längst an der Zeit, die Rolle der Kirche neu zu definieren?

Ich bin keineswegs dafür, ein drittes Vatikanum abzuhalten, das nach der momentanen Großwetterlage das Zweite Vatikanum korrigieren würde. Die Potenziale müssen erkannt und gehoben werden. Das Konzil muss weitergedacht werden. Nehmen wir als Beispiel den Priestermangel: Die Situation hat sich komplett verändert. Vor 50 Jahren war von Priestermangel keine Rede. Weshalb weihen wir nicht ständige Diakone (die verheiratet sein dürfen; Anm.) zum Priester? Ich würde mir für heute etwas von dem Optimismus und der Aufbruchsstimmung des Konzils wünschen.

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Zur Person

Helmut Krätzl wurde am 23. Oktober 1931 in Wien geboren. 1954 erfolgte die Weihe zum Priester. Fünf Jahre später wurde er an der Universität Wien zum Doktor der Theologie, 1964 an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom zum Doktor für Kirchenrecht promoviert. 1977 wurde er von Paul VI. zum Weihbischof für die Erzdiözese Wien ernannt. Im selben Jahr empfing er im Stephansdom die Bischofsweihe durch Kardinal Franz König, dessen Zeremoniär er war. In der Bischofskonferenz war er unter anderem für schulische Angelegenheiten zuständig. 2008 nahm Benedikt XVI. sein Rücktrittsgesuch aus Altersgründen an. [Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2012)

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