Ingeborg Gabriel: "Unser aller Wohlstand ist bedroht"

Ingeborg Gabriel Unser aller
Ingeborg Gabriel Unser aller(c) EPA (MICHAEL KAPPELER)
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Was brauche ich wirklich? Was ist das richtige Maß? Die katholische Sozialethikerin Ingeborg Gabriel sieht in den Aussagen und Zeichen von Papst Franziskus eine große Herausforderung für die Kirche – aber auch für die Gesellschaft. Die Ungleichverteilung in der Welt bezeichnet sie als eine der großen Gefährdungen des Wirtschaftssystems.

Die Wahl des neuen Papstes hat zahlreiche große Erwartungen geweckt. Was erwarten Sie persönlich von Franziskus?

Ingeborg Gabriel: Ich war zufällig in Rom, als die Papstwahl stattfand, und mir sind auf dem Petersplatz vier Dinge aufgefallen: Dass er sehr gütig ist, kombiniert mit einer gewissen Härte und Strenge des Jesuiten. Dann ist die Wahl des Namens zu Herzen gegangen – die Option für die Armen, die Umweltfrage. Der dritte sehr berührende Punkt war die Art, wie er um das Gebet der Gläubigen gebeten hat. Und viertens, dass er sich als Bischof von Rom bezeichnet, der den Vorrang in der Liebe hat. Die Kardinäle hatten den Mut, eine Entscheidung zu treffen, die eine Richtung angibt. Man ist an die Wahl von Karol Wojtyla erinnert. Mit der Wahl eines Lateinamerikaners stellt sich eine andere große Frage: Will man die Frage der Armut, des Wirtschaftssystems, der Ökologie ins Zentrum der Weltkirche stellen? Die Entscheidung ist deshalb auch mutig, weil sich ja niemand gern auf die Zehen treten lässt. Ein Kardinal, der aus seinem Palais ausgezogen ist, das könnte ja auch Fragen an andere Kardinäle stellen. Wie weit er das als eine persönliche Option ansieht, die einen Vorbildcharakter hat, oder auch strukturell versteht, das ist noch eine auch für mich offene Frage.


Auch Sie haben ganz offensichtlich sehr hohe Erwartungen an den neuen Papst. Ist es überhaupt möglich, dass ein Einzelner all diese Erwartungen erfüllen kann? Ist da nicht das Scheitern schon impliziert?

Das glaube ich nicht. Wenn er eine Dezentralisierung in der katholischen Kirche bewirkt, wäre das schon ein Schritt vorwärts. Viele Eingriffe von Kurialbeamten in die Diözesen sind während der vergangenen Jahre vielen auf die Nerven gegangen.


Ihnen auch?

Ich habe an die Kardinäle gedacht und war nicht direkt betroffen. Aber wir hatten es mit einem Zentralismus zu tun, der das Subsidiaritätsprinzip, das auch für die Kirche gelten sollte, missachtet hat.


Erwarten Sie, wie das manche tun, auch von Franziskus, dass er einige der heißen Eisen wie beispielsweise den Zölibat schmiedet?

Das wäre Kaffeesudlesen.


Und das überlassen Sie Journalisten . . .

Es gebe einiges zu tun, seit Jahrzehnten. Aber es tut uns vielleicht ganz gut, diese heißen Eisen zu relativieren. Ich würde die nicht auf dieselbe Ebene stellen wie soziale Gerechtigkeit und Ökologie. Es gibt beispielsweise keine Ökologie-Enzyklika. Wenn das Thema Ökologie stärker betont werden würde, dann könnte man sicher stärker alle Kirchen ins Boot holen.


Die Option für die Armen wurde explizit erst von der Befreiungstheologie implementiert. Inwieweit ist die Befreiungstheologie durch den Papst aus Argentinien im Mainstream der katholischen Kirche gelandet?

Man kann durchaus die gesamte katholische Soziallehre mit der Option für die Armen übertiteln, auch wenn der Begriff erst später gekommen ist. Es gibt sehr unterschiedliche Strömungen in der Befreiungstheologie.


Manche konstatieren durch die Papstwahl – ich weiß nicht, ob Sie derartige Etikettierungen gelten lassen – eine Art Linksruck in der katholischen Kirche. Sie auch?


Ich weiß nicht, ob das Kategorien sind, mit denen man noch arbeiten kann. Auch der „Economist“, der sicher nicht als links verdächtig ist, sieht die Ungleichverteilung in der Welt als eine der großen Gefährdungen des Wirtschaftssystems. Es stellen sich die Fragen: Sind Arm und Reich nicht viel zu weit auseinandergedriftet? Funktioniert der Finanzmarkt wirklich als Markt wie jeder andere?


Sind das tatsächlich Fragen, die die katholische Kirche beantworten kann? Kann denn ein Papst so etwas wie den von manchen gesuchten dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus weisen?


Das nicht. Aber eine Kirche mit 1,2 Milliarden Gläubigen hätte ein Potenzial, um Dinge aufzugreifen. Wenn ich eine Vision äußern darf: Warum veranstaltet man nicht eine große Konferenz mit den besten Köpfen in Rom, die diese Dinge anspricht? Da wird es keine Patentlösungen geben, aber es könnten Schritte in die richtige Richtung gemacht werden, es könnte einen globalen Diskurs stimulieren. Das könnte ein Papst jederzeit.


Aber Studien, zuletzt eine vor wenigen Wochen veröffentlichte von der Weltbank, besagen doch andererseits, dass weltweit die Armut zurückgeht.


Wir haben weiter die eine Milliarde Menschen, die mit einem Dollar pro Tag auskommt. Selbst wenn das jetzt 900 Millionen sein mögen – es sind mit einem Wort viel zu viel. Und wir haben global eine kleine Schicht, die sich abgekoppelt hat, bei der man den Eindruck bekommt, dass ein fast obszöner Reichtum herrscht. Selbst wenn man in Europa bleibt und sich Zypern und Griechenland ansieht, dann ist das schon eine dramatische Situation, auch wenn die Leute meistens noch genug zu essen haben. Ich versuche optimistisch zu sein, aber die Lage in Europa ist noch immer sehr labil. Und weltweit gilt: Neun Milliarden Menschen können nicht so leben, wie wir leben, was den Verbrauch der natürlichen Ressourcen betrifft. Da sehe ich den Wert von Zeichen des Papstes: Wir sollen sparsamer, einfacher leben.


Eine Art Paradigmenwechsel für die katholische Kirche?

Es ist eine Schwerpunktverlagerung. Für Johannes Paul II. war der Kampf gegen den Kommunismus seine große Aufgabe. Papst Benedikt hat eher auf eine aus der Dogmatik kommende Widerlegung der europäischen Säkularität gesetzt. Und jetzt haben wir einen Papst, der die Frage der Armut und Ökologie offenbar in den Mittelpunkt stellen will. Das ist in sich schon befreiend und erfrischend.


Sie sprechen den nicht ganz erfolglosen Kampf gegen den Kommunismus durch den Vor-Vorgänger von Franziskus an: Erwarten Sie jetzt womöglich vom neuen Papst so etwas wie einen Kampf gegen den Kapitalismus?

Ich könnte mir einen Kampf gegen einen ungezähmten Kapitalismus vorstellen, der Gerechtigkeitsfragen völlig vernachlässigt. Da gibt es schon eine breite Strömung auch innerhalb einer durchaus marktwirtschaftlich orientierten Ökonomie.


Sehen Sie diesen, wie Sie es nennen, ungezügelten Kapitalismus derzeit am Werk?


Ja, schon. Das wirkliche Problem, das wir haben, ist, dass der marktwirtschaftliche Liberalismus immer auch in einem Gleichgewicht stand zum politischen System. Durch die Globalisierung ist das völlig aus den Angeln gehoben worden. Es gibt kein Pendant mehr, dass der Marktwirtschaft Regeln auferlegen würde.


Inwiefern sehen Sie ein Versagen der Politik, in deren Aufgabenbereich das Formulieren von Regeln fällt?

Es ist außerordentlich schwierig, alle Staaten unter einen Hut zu bringen. Da findet sich immer ein Trittbrettfahrer. Dieser Mangel an Regelung ist ein ungelöstes Problem, der unser aller Wohlstand bedroht. Die globale Lage ist in einer Weise komplex geworden, die bedrohlich ist.


Was bedeutet der Ruf nach einer Kirche der Armen konkret für die katholische Kirche in Österreich?

Es wird nicht die ganze Kirche auf einen franziskanischen Stil einzuschwören sein. Es ist richtig, dass es katholische Universitäten, Spitäler und verschiedenste andere Einrichtungen gibt, und das alles braucht auch Vermögen. Da soll man nicht naiv sein. Auf der anderen Seite ist die Kirche gut beraten, sich die Frage zu stellen: Was brauche ich wirklich? Was ist das richtige Maß? Was dient, und was hat einen negativen Aspekt und schadet der Glaubwürdigkeit? Eine solche Haltung der katholischen Kirche könnte auch der Gesellschaft in Österreich den Spiegel vorhalten. Da ist der Papst sicher eine große Herausforderung – und nicht nur für Katholiken.


Apropos Gesellschaft in Österreich: Wie unethisch handeln Österreichs Politiker vor dem Hintergrund der Korruptionsfälle der jüngeren Vergangenheit?

Ich stimme Colin Crouch (britischer Politikwissenschaftler, Anm.) zu, dass das System globalisierter Wirtschaft und nationaler Politik mit Übergewicht der Wirtschaft korruptionsanfälliger ist. Da gab es zuletzt eine Art Korruptionskarneval, auch wenn das nur einige wenige schwarze Schafe betrifft. Der öffentliche Vertrauensverlust der Politik erscheint mir besorgniserregend.

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