Chinas Propaganda mit dem Holzhammer

Selfie mit Großmutter über den Dächern von Shigatse.
Selfie mit Großmutter über den Dächern von Shigatse.Burkhard Bischof
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Ohne Zweifel greift die chinesische Regierung der autonomen Region Tibet mit enormen Mitteln unter die Arme. Doch die massive Polizei- und Militärpräsenz zeigt, dass sie dem jetzigen Frieden nicht ganz traut.

Bianba Zhaxi, Vizepremier der Autonomen Region Tibet, wähnt sich offenbar mitten in einem längst verflossenen Jahrzehnt. Gerade, dass er nicht auch noch mit dem Drohfinger herumfuchtelt, als er eine Gruppe Journalisten aus Österreich und der Schweiz belehrt, wie sie die Dinge in Tibet richtig zu beurteilen hätten: „Sie müssen Ihre ganze Aufmerksamkeit der umfassenden Entwicklung Tibets widmen“, bläut er seinen Gästen ein. „Vor mehr als 50 Jahren war das hier eine dunkle, zurückgebliebene Feudalgesellschaft, über 90 Prozent der Bevölkerung waren Sklaven. Das war wie bei euch in Europa im tiefsten Mittelalter.“

Klar, dass nach der gängigen chinesischen Darstellung dann 1959 die „Befreiung“ erfolgte. „Dass wir heute in Tibet so gut leben, ist der Erfolg der Kommunistischen Partei. Sie ist eine großartige Partei, die dem Volk dient.“ Man will seinen Ohren nicht ganz trauen, glaubt einen Moment, durch eine Zeitmaschine mitten in die Hochblüte der maoistischen Diktatur zurückversetzt worden zu sein. Aber nein, Vizepremier Bianba Zhaxi spricht diese Worte im September 2014, im Büro für Auswärtige Angelegenheiten, mitten in der tibetischen Hauptstadt Lhasa.

Re-Ideologisierung. Gut, vielleicht waren seine Worte auch eher für Peking bestimmt, wo die jetzige Parteiführung gerade eine Re-Ideologisierung der politischen Arbeit forciert. Sogar die quälenden Selbstkritiksitzungen für in Ungnade gefallene Genossen gibt es wieder. Da ist es immer besser, man zeigt auf wie Bianba Zhaxi und verkündet präventiv lauthals: „Ich bin ein guter Kommunist!“

Der Vizepremier ist freilich nicht das einzige Beispiel für anachronistisch anmutende Propaganda in Tibet. In einem Dorf nahe der immer noch wie ein authentisches tibetisches Juwel anmutenden Stadt Gyantse wird uns – wie schon vor vier Jahren einmal – das mehrstöckige Haus eines 1959 mit dem Dalai-Lama nach Indien geflüchteten und in den 1980er-Jahren in der Schweiz verstorbenen tibetischen Adeligen vorgeführt. In den Glasvitrinen sind Rolex-Uhren und schottische Whiskyflaschen aus den 1950er-Jahren zu bewundern. In der Straße gegenüber dann die düsteren, verrußten Unterkünfte der versklavten Dienerschaft – und daneben das Haus einer Nachfahrin eines dieser Sklaven. Sie empfängt uns in dem mit einer geschnitzten Decke dekorierten Wohnzimmer ihres schönen Hauses.

Bei unseren Fragen muss die Frau beim Übersetzer Erkundigungen einholen, was genau sie antworten soll. Hinter ihr eine Fotogalerie mit Pantschen-Lamas – und ein Bild vom chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping. Wir fragen nach den Abgebildeten. Der Übersetzer hilft uns auch gleich bei der richtigen Einordnung des Gesagten: „Als die Frau den Namen von Präsident Xi aussprach, lachte sie überglücklich.“

Dabei wirkt solche Propaganda mit dem Holzhammer im heutigen Tibet eigentlich deplatziert und unnötig. Denn es ist unbestreitbar, dass in Tibet etwas vorangeht, weil die Zentralregierung und andere Provinzen der Autonomen Region mit gewaltigen finanziellen und technischen Mitteln unter die Arme gegriffen haben und greifen. Lu Guangjin, der im Informationsbüro des Staatsrates (Regierung) für die Bereiche Tibet und Menschenrechtsfragen zuständig ist (eine interessante Kombination übrigens) berichtet uns in Peking von 400 Milliarden Yuan, die seit den 1950er-Jahren an Unterstützung nach Tibet geflossen seien. Zhang Yun, Direktor am Chinesischen Forschungszentrum für Tibetologie in Peking, ergänzt, dass 90 Prozent des jährlichen Budgets der Autonomen Region aus Peking stammten.

Wirtschaftswachstum. Es ist für einen Berichterstatter, der seit 2006 im Abstand von vier Jahren auf Einladung der chinesischen Regierung im Dreieck der Städte Lhasa-Gyantse-Shigatse herumgeführt wurde, unübersehbar, dass die gesamte Infrastruktur immer besser wird, die Versorgung immer vielfältiger, die Städte immer moderner. Gewaltige Aufforstungsprogramme zeugen von verstärktem Umweltbewusstsein, es gibt immer mehr Betriebe und damit immer mehr Arbeitsplätze.

Die Wirtschaft Tibets wuchs nach offiziellen Angaben 2013 um 12,1 Prozent und damit um 4,4 Prozent mehr als im Landesdurchschnitt. Tourismus wird zu einem immer wichtigeren Wirtschaftsfaktor. Fast 13 Millionen Touristen besuchten im vergangenen Jahr Tibet, davon waren 223.000 Ausländer.

Diese Zahlen sind die eine Seite. Exiltibetische Aktivisten malen das völlig konträre Bild: nicht das des Fortschritts, sondern das der bewussten Zerstörung: Die von Peking forcierte Modernisierung Tibets bedeutete die allmähliche Auslöschung der einzigartigen Traditionen des Hochlandes und diene vor allem der Ausbeutung der Reichtümer Tibets; der Zuzug von Han-Chinesen an die vielen Baustellen auf dem Dach der Welt dränge die Tibeter immer mehr an den Rand; überhaupt sei das Leben dort für Tibeter die Hölle. Solche Kritik, die die Unterstützung der Zentralregierung leugnet bzw. umdeutet, ärgert Peking maßlos. Einfach ist es für einen ausländischen Besucher dabei nicht, zwischen chinesischer Propaganda und exiltibetischer Agitation der Wahrheit über das heutige Leben und Empfinden der Tibeter näherzukommen. Tatsache ist aber, dass Städte wie Lhasa und Shigatse ein zunehmend chinesisches Antlitz bekommen. Shigatse etwa hatte 2006 noch viel tibetisches Flair, heute wirkt die Stadt wie eine aufgeputzte chinesische Provinzstadt mit modernen Kaufhäusern für allerlei Luxuswaren.

In Lhasa und Shigatse wandern die tibetischen Pilgermassen wie eh flotten Schrittes und Gebetsmühlen drehend zu den heiligen Schauplätzen Potala-Palast, Jokhang-Tempel, Tashilhunpo-Kloster und machen dabei keineswegs den Eindruck, gestresst oder unterdrückt zu sein. Aber sie werden jedenfalls scharf beobachtet. Denn unübersehbar ist auch: In Tibet wird nicht nur viel in die Infrastruktur, sondern auch gewaltig in die Sicherheitskräfte investiert. Bei Fahrten durch die Städte rauscht man wieder und wieder an Polizei- und Armeekasernen vorbei, an kritischen Plätzen wie auf dem Barkhor in Lhasa sind Beobachter auf den Dächern postiert. Und überall stehen Feuerlöscher.

Als wir Lu Guangjin in Peking fragen, ob diese massive Präsenz von Sicherheitskräften in Tibet denn deshalb erfolge, weil wieder Unruhen wie 2008 drohten, wiegelt er zunächst ab. „Nein, derzeit gibt es keine Anzeichen für neue Unruhen.“ Dann kommt er selbst auf die über 130 Selbstverbrennungen von Tibetern zu sprechen, die es in den vergangenen vier Jahren gegeben hat, vor allem in den von Tibetern bewohnten Gebieten in den Provinzen Qinghai und Sichuan. Und er beschuldigt exiltibetische Vertreter aus dem Umkreis des Dalai-Lama, dass sie im Internet junge Tibeter zu solchen Verzweiflungsaktionen ermuntert hätten.

Zhang Yun, den wir auch nach der massiven Polizeipräsenz in Tibet fragen, hat eine eher eigenartige Erklärung: „Die Polizei dort hat eben nicht nur eine Schutz-, sondern auch eine Dienstleistungsfunktion. Es gibt immer wieder Bürger und Touristen, die nach dem Weg fragen.“

Hat Peking die Situation in Tibet derzeit also unter Kontrolle? Eindeutig ja, die Situation im Hochland scheint bei Weitem nicht so explosiv wie in Xinjiang. Aber ist das Hochland auch dauerhaft befriedet? Das sicher nicht. Wie die Aufstände 1959, 1987/9 oder 2008 zeigen, genügt manchmal ein Funke ins Pulverfass, um einen Teil der Tibeter zu gewaltsamen Protesten anzustacheln. Bei der derzeitigen Polizei- und Militärpräsenz wären solche allerdings nicht ratsam.

Zahlen

Die Autonome Region Tibet hat eine Fläche von 1.268.947 km2 und rund
drei Millionen Einwohner.

Das Wirtschaftswachstum der Autonomen Region betrug im vergangenen Jahr 12,1 Prozent, um
4,4 Prozent mehr als im chinesischen Landesdurchschnitt.

Der Haushalt wird zu 90 Prozent aus Mitteln der Zentralregierung gespeist.

neue Bahn

Sechs Stunden dauert die Fahrt im Auto zwischen den beiden wichtigsten tibetischen Städten von Lhasa nach Shigatse.

Im Zug bewältigt man die gut 250 Kilometer lange Strecke jetzt in drei Stunden. Die Bahn ist seit sechs Wochen in Betrieb.

Die Strecke führt durch eine wilde Schlucht des Yarlong-Zhangbo-Flusses (Brahmaputra) und gehört gewiss zu den spektakulärsten der der Welt.

In vier Jahren Bauzeitwurden 29 Tunnel gebohrt und 96 Brücken gebaut (siehe Bild unten).

Kosten: 13,3 Mrd. Yuan (1,7 Mrd. Euro).
Burkhard Bischof

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2014)

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