Hogwarts' Magie in Tel Aviv als Chance

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Ein Ort der Zuflucht für »verlorene« Teenager, für jüdische wie arabische: Das soll die Muzot-Kunstschule in Jaffa sein. Ein Lokalaugenschein.

Das hier ist wie Hogwarts, ein wenig magisch.“ Sonja verbringt ihr letztes Schuljahr hier an der Muzot-Kunstschule in Jaffa. Nächstes Jahr wird sie ihre Abschlussprüfung machen, danach studieren können, obwohl Muzot keine Schule ist wie jede andere.

Hier auf der Terrasse eines alten ehemals arabischen Hauses, in der Yefet Street in Jaffa, ist es an diesem Nachmittag heiß. Sonja wirkt nicht schüchtern, etwas verwundert vielleicht über die Fragen, etwas verunsichert sicher. Nicht wegen der Fragen, sondern wegen der Welt „draußen“. Sie weiß nicht wirklich, wie sie sich zurechtfinden wird. Sie ist eine von 101 Schülern, die im gängigen Schulsystem Israels ihren Platz nicht gefunden haben, Schulabbrecher also, verhaltensauffällig manche, von der Straße geholt einige, wohlstandsverwahrlost andere.

Sonja zeichnet. Das „gewisse Talent“ für bildende Kunst, Musik oder Theater ist absolute Voraussetzung für die Aufnahme hält Ora Naftali von der Schulleitung fest. Über das Künstlerische sollen die Schüler lernen, ihre Einstellung, ihr Verhalten zu ändern.

Das ein wenig Magische dieser Kunstschule für Teenager mit einer „Vergangenheit“ zeigt sich, als Zaki, ein sechzehnjähriger Araber, an den Tisch kommt. Er sei Kommunist, Anarchist eigentlich, ein Moslem, gegen die herrschende Gesellschaftsordnung und für eine Revolution. Im Sommer sei er dreimal bei den Demonstrationen gegen das israelische Bombardement auf Gaza verhaftet worden. Vered Nitzani, Psychologin und Mitbegründerin der Kunstschule 2005, hört ihm aufmerksam zu. Nichts an ihrer Reaktion lässt Missbilligung erkennen.


Zwischen zwei Welten. Wahrscheinlich fühlt sich die Schule für Zaki deshalb wie ein zweites Zuhause an, wie er sagt. In den anderen Schulen hätte er nie so offen reden können, dort sei er angefeindet worden. Hier sei man offener. Ein junger Araber, groß, stark, mit festem Blick, zwischen zwei Welten – der arabischen Familie und der jüdischen Schule. Vielleicht wirkt er deshalb so wild entschlossen. Später soll Vered Nitzani mit viel Empathie erzählen, dass jemand wie Zaki, der zwar Araber sei, die Sprache aber weder schreiben noch lesen könne, nur Hebräisch beherrsche, seinen „Platz in der Gesellschaft“ irgendwie finden und lernen müsse, wie man einen Wandel auch ohne Gewalt erreichen kann. Man müsse Lösungen auf seine Fragen und die der anderen Teenager suchen. Dafür sei diese Schule da. Sie will für Zaki leisten, was andere Schulen in Tel Aviv nicht vermochten: Ihm das Gefühl geben, er gehöre dazu.

Fast schämt man sich, im Gespräch mit Zaki die Frage gestellt zu haben, wie oft er denn verhaftet werden dürfe? Vered Nitzani: „So oft er will.“ Alles außerhalb der Schule bleibe ohne Konsequenzen. Innerhalb gibt es rote Linien: keine Drogen, kein Alkohol, keine Gewalt, kein Diebstahl. Übertritte werden ohne Gnade mit Ausschluss geahndet. Allerdings gebe es nach einem Jahr Unterbrechung eine zweite Chance, erzählt Lital Wassermann, Sozialarbeiterin. Vor zehn Jahren hatten Wassermann und Nitzani die Idee zur Schule der zweiten (manchmal auch dritten) Chance für „verlorene“ Teenager. Die Stadt Tel Aviv stellte das Gebäude zur Verfügung, kommt für die Hälfte der Kosten auf. Der Rest finanziert sich durch private Spenden. Bei den Aufnahmetests müssen die Eltern ein Interesse am Lernerfolg der Kinder erkennen lassen. Es seien oft gute Eltern, aber „irgendetwas ist schiefgelaufen“. Schulgeld muss aufgebracht werden, wenn auch nur in symbolischer Höhe.

Das ein wenig Magische kann man auch in der Pause beobachten. Da füllt sich die große Halle, die einmal ein Empfangsraum mit Stuck und hohen, bunten Butzenscheibenfenstern gewesen sein dürfte, mit Schülern und Lehrkräften. Das Konferenzzimmer ist nur mit Glas abgetrennt. Jeder kann sehen, welche Lehrkraft gerade verfügbar ist. Ein Kuss von der Mathematik-Professorin auf die Wange einer Schülerin vor der Mathe-Stunde, das Temperament und die Freude einer anderen Lehrkraft, wenn sie von ihrer Arbeit erzählt. „Die Lehrkräfte müssen Liebe zum Unterrichten haben“, nennt Ora Naftali als Bedingung für die Arbeit in Muzot. Deshalb sagt Sonja, die Schulabbrecherin, jetzt auch: „Ich liebe sogar Mathematik.“ Außenstehende würden es den Jugendlichen mit den grell gefärbten Haaren, den Tattoos, der „kreativen“ Kleidung, den Piercings gar nicht zutrauen, dass sie über das Künstlerische zu einem Schulerfolg finden, der sie bei der staatlichen Abschlussprüfung durchwegs gut abschneiden lasse, wie Ora Naftali betont.

Den sechzehnjährigen Sami muss man nicht nach dem Magischen fragen. Es sprudelt nur so aus ihm heraus – auf Deutsch: „Das ist die beste Schule“ für ihn. „Die Lehrer sind top. Es ist immer alles friedlich. Extrahilfe gibt es jederzeit. Mehr wünsche ich mir nicht.“ Das alles will er gesagt haben. Sami, der Deutsche, hatte es nicht leicht. Als er neun Jahre alt war, kam er nach Israel. Da habe er „Rassismus“ erfahren, weil er Deutscher war, sei aus zwei Schulen hinausgeworfen worden. Einmal, weil er auf dem Gang gelaufen sei, ein anderes Mal, weil ihn Medikamente aggressiv gemacht hätten.

Deutscher Problemteenager. Aber seine Mutter habe von der Kunstschule erfahren. Allein, er habe kein Instrument gespielt. Also keine Aufnahme. Dann habe er für vier Wochen privat Klavierunterricht genommen. Motivation für ein besseres Leben! Dieses Credo in Muzot hat Sami gewissermaßen vor sich selbst gerettet. Es war ihm wichtig. Vered Nitzani kennt seine ganze familiäre Geschichte, die aus dem neunjährigen Deutschen einen Problemteenager in Israel gemacht hat.

Vielleicht wird er in zwei Jahren zu den Absolventen zählen, die bei der Abschlussprüfung überdurchschnittlich gut abgeschnitten haben – und immer wieder zurück in die Yefet Street kommen. Von diesen gibt es viele, weil ihnen anderswo der „strenge, aber liebevolle“ Umgang fehlt. Dann erzählen sie anderen Jugendlichen, wie Kunst und Schule ihre alten Verhaltensweisen geändert haben. Wie sie sich „neu erfinden“ konnten. Wie Schulleitung und Lehrkräfte ihnen das Gefühl gegeben haben, endlich glaubt jemand an sie und ihre Talente, welche immer. Endlich nimmt man sie ernst, vertraut ihnen und traut ihnen etwas zu.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.12.2014)

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