Die Entsorgung der sowjetischen Idole

A worker sweeps leaves off a monument to the character Darth Vader from ´Star Wars´, which was rebuilt from a statue of Soviet state founder Vladimir Lenin, in Odessa
A worker sweeps leaves off a monument to the character Darth Vader from ´Star Wars´, which was rebuilt from a statue of Soviet state founder Vladimir Lenin, in Odessa(c) REUTERS (VOLOKIN YEVGENY)
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Bis 21. November müssen in der Ukraine Ortsnamen und Statuen aus der UdSSR-Zeit verschwinden. Viele Bürger sind über die Entkommunisierung nicht begeistert.

Felix Dserschinski, Gründer der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka und Lenins rechte Hand, hatte einen Bruder, Wladislaw. Ein Brüderpaar, so verschieden wie Feuer und Wasser: Der eine Kommunist, der unerbittlich politische Gegner bekämpfte; der andere Psychiater und Antikommunist. Der eine gefürchtet. Der andere vergessen.

Angesichts der drohenden Umbenennung hatten Bürger von Dserschinsk, einem Städtchen in der Ostukraine, eine Idee: Ab sofort würde die Stadt nach Wladislaw, dem vergessenen Dserschinski, benannt sein! Damit hätte man zwei Probleme auf einmal gelöst: entkommunisiert und den lieb gewonnenen Namen behalten. „Es war ein guter Vorschlag“, befindet Bürgermeister Wladimir Slepzow in seinem Kabinett. „Aber die in Kiew“ – mit der Hand weist er auf das Miniaturporträt von Präsident Petro Poroschenko an der Wand hinter ihm – „verstehen das nicht.“

Slepzow ist kein Freund des vom Kiewer Parlament erlassenen Gesetzes. Während ein paar Kilometer von Dserschinsk entfernt, in den Städten des besetzten Donbass, Stalin-Plakate affichiert und Leninstatuen gepflegt werden, will sich die Ukraine ihrer kommunistischen Vergangenheit endgültig entledigen. Bis 21. November müssen laut dem „Gesetz über die Entkommunisierung“ alle kommunistischen Toponyme und Denkmäler in der Ukraine verschwinden.

Ganze Städte werden umbenannt. Nicht nur Dserschinsk ist betroffen, sondern auch die Millionenstadt Dnjepropetrowsk, benannt nach Grigorij Petrowskij, einem Revolutionär und Sowjetpolitiker. In Kirowograd (benannt nach dem Revolutionär Kirow) überlegt man eine Rückkehr zum zaristischen Namen Jelisawetgrad; ein antiukrainischer Vorschlag, empören sich Kritiker. In Dserschinsks Nachbarort Artjomowsk (benannt nach dem Revolutionär Artjom) hat man sich für den vorrevolutionären Ortsnamen Bachmut entschieden. Doch Dserschinsk hat keinen historischen Namen: Wie so viele Städte im Donbass wurde sie als Bergarbeitersiedlung gegründet, 1936 war das.

Slepzow sagt, er hätte sich „mehr Zeit für Diskussionen“ gewünscht. Der Bürgermeister ist ein beleibter 68-Jähriger, der seit dem Krieg im Donbass wieder begonnen hat, Damenzigaretten der Marke Vogue zu rauchen, und seine Mitarbeiter per Tischglocke einbestellt. Slepzow ist ein Urgestein: seit 18 Jahren Bürgermeister des 36.000 Einwohner zählenden Ortes. Die politischen Erdbeben des vergangenen Jahrzehnts – die Orange Revolution, der Euromaidan – waren inmitten der Steppe, in der die verwaschenen Mehretagenbauten und Schlackehügel Dserschinsks stehen, nicht einmal als sanfte Erschütterung zu spüren. Hier ist es, als wäre die Ära von Viktor Janukowitschs „Partei der Regionen“ nie zu Ende gegangen. Fast der gesamte Stadtrat war einst von „Regionalen“ besetzt; die Abgeordneten sind nun geschlossen in den „Oppositionsblock“ übergetreten.

Slepzow, der Janukowitsch noch aus dessen Tagen als Donezker Gouverneur kennt, hat zuletzt die Separatisten überdauert, die sich kurzzeitig bei ihm eingerichtet hatten, und weil er sich von ihnen nicht scharf abgrenzt, nennen ihn manche selbst einen. Seine Stadt befindet sich heute an der Frontlinie: Im Juli 2014 wurde sie, wie es offiziell heißt, von der Armee „befreit“. Doch die Gemeinde hält sich auffällig zurück mit gelb-blauer Symbolik.

Neutraler Name gesucht. Bringen die betroffenen Gemeinden keine eigenen Vorschläge für die Umbenennung ein, werden von der Gebietsverwaltung bzw. letztgültig vom Parlament Gegenvorschläge erlassen. „Dann machen wir es lieber selbst“, sagt Slepzow. Mehrere Wochen lang konnten die Bürger Vorschläge einbringen, und eine Kommission aus Historikern, Lehrern und Kulturarbeitern entschied schließlich über den neuen Ortsnamen, den jetzt nur noch das Kiewer Parlament absegnen muss: Torezk, nach dem örtlichen Flüsschen Torez. Unter den mehr als 100 eingelangten Vorschlägen waren unter anderem New York, Gloria, Schutzengel oder schlicht Schächte. Auch 20 Straßen müssen umbenannt werden.

Statuen von Lenin und Dserschinski, die einst über das Zentrum wachten, haben Gemeindearbeiter bereits abgetragen. Sie werden an einem sicheren Ort verwahrt, erklärt ein Mitarbeiter der Behörde. „Lenin sah weit, viele Jahre voraus“, sagt er nostalgisch, den sowjetischen Poeten Sergej Michalkow zitierend. „Jetzt nicht mehr.“

Die alten Damen neben dem Betonstumpf, auf dem bis vor Kurzem noch Lenin stand, sind über die Entkommunisierung nicht begeistert. Für Zoja Petrowna (79) ist Dserschinski jene Lichtgestalt geblieben, wie sie in den sowjetischen Filmen ihrer Jugend gezeigt wurde. „Es ist nicht bewiesen, dass er Menschen auf dem Gewissen hat.“

Ihre Freundin Swetlana Iwanowna pflichtet ihr bei: „Es war Revolution, Gegenrevolution, was wissen wir schon.“ Dserschinski im Nebel der Geschichte – herausholen will ihn hier niemand. Die jüngere Generation sieht die Sache zwar pragmatischer, aber auch kritisch: „Ich bin dagegen, weil es zusätzliches Geld kostet“, sagt Swetlana Jewgeniewna. Die Bürger müssen Änderungen in ihren Dokumenten selbst bezahlen, die Gemeinde muss für Schilder aufkommen. „Man sollte besser Kriegsschäden reparieren“, sagt die 24-jährige Juristin.

Vizegouverneur Viktor Andrusiw, ein 32-Jähriger aus Lemberg, hat weder für Geldnöte noch für Nostalgie Verständnis. „Wir setzen die Gemeinden unter Druck“, gibt er in der neuen Gebietshauptstadt Kramatorsk offen zu. Dass die Großelterngeneration in der Ostukraine an ihren Sowjetidolen hänge, sei ihm persönlich „egal“. Aus seiner Sicht kann er eine Erfolgsbilanz vorweisen: Die sowjetischen Statuen im ukrainisch kontrollierten Donezker Gebiet sind heute an einer Hand abzuzählen.

Das Problem mit dem Kloster. Nur eine bereitet ihm Kopfzerbrechen: die Steinstatue des Artjom auf dem Berg des Klosters Swjatohirsk. Der kubistische Artjom fällt unter den Unesco-Schutz des Klosters. Wie er den Sowjet-Heiligen loswird, weiß selbst der sonst so durchsetzungsstarke Andrusiw nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2015)

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