Kirgisen: Auf der Alm ist's halt doch am schönsten

(c) Edda Schlager
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Die Kirgisen entdecken ihre Nomadenseele wieder: Im Sommer ziehen sie samt Familie und Vieh auf hoch gelegene Sommerweiden und wohnen dort in Jurten. Der Umzug ist jedesmal ein Riesenspektakel.

Auf dem Gehöft von Bachyt, dem kirgisischen Nomaden, der mit seinen roten Haaren und in Jeans nicht unbedingt wie ein Nachfahre des mongolischen Kriegerkönigs Dschingis Khan aussieht, herrscht Aufregung: Morgen brechen er und seine Familie ins Sommerlager auf. Die Vorbereitung im Winterlager läuft auf Hochtouren. Dazu gehört etwa, die Hengste von den Stuten zu trennen.

Dutzende Pferde sind in einem Kral zusammengetrieben, traben nervös herum, wiehern. Bachyts Männer versuchen, einen kräftigen Schimmelhengst von den Stuten abzudrängen. Immer wieder bricht er aus, wenn die Männer ihn gerade in eine Ecke bugsiert haben. Dann bleibt ihnen nur ein Sprung zur Seite – mit einem wild gewordenen Hengst legen sich auch Kirgisen nicht gerne an, obwohl die meisten von ihnen schon auf einem Pferd sitzen, bevor sie gehen können.

Am Ende muss der Schimmel sich fügen. Ein Mann wirft ihm einen Strick um den Hals und streift ihm ein Halfter über. Morgen früh, wenn der Treck aufbricht, wird ein Hirte den Hengst reiten und die Stuten treiben.

Mit hunderten Tieren durchs Flusstal.Bachyts Familie verbringt den Winter im Dorf. Das liegt in einem breiten Tal am Unterlauf des Chon-Kemin-Flusses, der sich von Ost nach West durch die Berge des Zailiskij Alatau windet, des Nordrands des Tien-Shan-Gebirges an der Grenze von Kasachstan zu Kirgisistan. Doch jedes Jahr im Sommer – wie auch heuer oft erst Ende Juni, weil sich der Winter lange in die raue Landschaft krallt – zieht Bachyt mit Yaks, Pferden, Schafen, Ziegen und Kühen, etwa 600 Tieren, auf die Sommerweide, den „Jailoo“. Die ist 100 Kilometer flussaufwärts, zwischen 4000 Meter hohen Bergen.

Der Russen-Lkw als Packesel. Im Winterlager wird gerade für den Umzug gepackt. Fast der ganze Haushalt – Kommode, Geschirr, Decken, Kleider, Solarbatterien, Dieselgenerator – landet auf einem russischen Militärlaster. Bachyts Ahnen haben ihre Habe auf Pferde gepackt – auch die Jurten, die runden Filzzelte der Nomaden Zentralasiens mit ihren langen Holzstangen und dem hölzernen Rauchabzug, dem „Tündük“.

Seit Jahren besinnen sich viele Kirgisen wieder aufs Nomadentum. Im Winter wohnen sie im Dorf, das Vieh kehrt abends in die Ställe zurück. Im Sommer treiben sie es auf hoch und abgelegene Bergweiden, wo die Tiere sich für den Winter rundfressen. Monatelang lebt man weit weg von zu Haus, fast wie die Ahnen. Die waren stets auf Wanderschaft, nutzten in jeder Jahreszeit andere Weiden, ganz auf die begrenzten Ressourcen des Landes abgestimmt.

Als Kirgisistan 1918 dem Sowjetreich angegliedert wurde, propagierten die Kommunisten Sesshaftigkeit. Aus Nomaden wurden Dorfbewohner, aus Hirten Kolchosbauern. Doch weil Kirgisistan seit dem Ende der UdSSR in einer Wirtschaftskrise steckt, sehen die Menschen wieder eine Chance in der Tradition. Bachyt ist stolz darauf: „Als die Kolchosen abgeschafft wurden, gab es keine Arbeit für uns. All das hier habe ich mit meinen Händen geschaffen. Nun bin ich mein eigener Herr.“

Heute leben er, seine Brüder und deren Familien gemeinsam von der Landwirtschaft. Während seine Brüder die Feldarbeit besorgen und Futtervorräte für den Winter anlegen, kümmert sich Bachyt um das Vieh. Er nimmt auch Tiere „in Pension“, etwa ein Drittel der Herde gehört nicht ihm und soll von ihm nur aufgefüttert werden.


Es ist zu heiß,der Treck stockt. Deshalb ist Bachyt am nächsten Tag in Aufregung. Frühmorgens im Dunkel sind die Herden losgezogen, doch nach wenigen Kilometern stockt der Treck. Die Kühe wollen stundenlang keinen Schritt mehr gehen. Es ist ungewöhnlich heiß, die Tiere flüchten in den Schatten der Bäume am schäumenden Fluss. Plötzlich fehlen einige. Immer wieder hat man die Rinder gezählt und sie zusammengehalten, trotzdem sind einige zurückgeblieben.

Bachyt steht die Sorge ins Gesicht geschrieben. Die Tiere zu suchen kostet Zeit. Doch wenn der Treck stehen bleibt, führt der Fluss im oberen Teil des Tals vielleicht bald zu viel Wasser, und die Herde kann ihn dann nicht mehr queren. Am Ende finden sich aber alle wieder.

Drei Tage soll der Weg zum Jailoo dauern. Von den Auen am Unterlauf geht es im Tal aufwärts, in einer Landschaft, die sich stündlich wandelt. Tags darauf führt der Weg über baumlose, geröllübersäte Terrassen. Hier hat sich der Chon-Kemin tief eingeschnitten, gespeist von Zuflüssen, die den Weiden ihre Namen geben.

„Wir stehen hier auf dem Jailoo Dschindi-Su“, erklärt Bachyt, „das heißt wildes Wasser.“ Man könne den Fluss kaum überqueren, nicht zu Fuß, nicht zu Pferd, es gebe nur ganz wenige seichte Stellen. „Unser Jailoo auf der anderen Flussseite nennen wir Kok-Oirok, grüne Schönheit. Wenn alles gutgeht, sind wir morgen Abend dort.“


Berghänge wie grüner Samt. Zum Glück ist der Chon-Kemin passierbar. Und der Tross erreicht am nächsten Abend die Sommerweide. Das Lager wird auf 3000 Meter Höhe, jenseits der Baumgrenze, aufgeschlagen, inmitten von Berghängen, die wie mit grünem Samt überzogen wirken, und unterhalb des Steilufers tost der Fluss.

Drei Jurten hat Bachyt mitgebracht, eine, in der gekocht und gegessen wird, eine als Schlafplatz für die Familie und eine für Gäste. Wie man sie aufstellt, lernen Kirgisen schon als Kinder. Zuerst stehen die Wände, es sind faltbare Holzgitter. Dann hält einer den Tündük mit einer Holzstange in die Höhe. Die anderen fügen nun Dutzende Dachsparren ein, gebogene Holzlatten – das eine Ende wird in Löcher am Rauchabzug eingepasst, das andere am Holzgitter befestigt. Wenn das Gerippe steht, wird es mit großen Filzbahnen umspannt.
Obwohl Jurten schnell auf- und abbaubar sind, wohnen viele Hirten in alten Bahnwaggons oder Containern. „Früher gab es viele Jurten“, sagt Talant, Bachyts Bruder, „jetzt werden kaum noch welche gefertigt, und wenn, sind sie teuer.“ 15.000 Dollar koste eine gute, und die Jungen wollten das Handwerk nicht mehr lernen. „Aber das Gefühl, darin zu schlafen, ist einmalig“, schwärmt Talant. „Nachts sieht man durch den Kamin die Sterne und morgens die Sonne.“

Die Romantik kriegt Risse, wenn man Bachyts Frau Ainura ins Gesicht schaut. Die junge Frau sieht zehn Jahre älter aus, als sie ist. „Ich möchte manchmal nur ausruhen, weit weg“, sagt sie. „Jeden Tag machst du Teig, Brot, jeden Tag sind Kühe zu melken.“ Auf ihr lastet ein Großteil der Verantwortung fürs Lager, sie bewirtet Gäste, ist von früh bis spät auf den Beinen.

Stutenmilchschwips. Sie melkt auch die Stuten, um „Kumys“ zu machen, das leicht alkoholische kirgisische Nationalgetränk aus vergorener Stutenmilch. Da die halb wilden Stuten aber keinen freiwillig zum Melken an sich heranlassen, fangen Bachyts Männer erst die Fohlen ein. Die sind noch ängstlicher als ihre Mütter, zum ersten Mal in ihrem Leben werden sie von wild schreienden Männern mit Lassos an langen Stecken überwältigt.

Am Ende der martialisch wirkenden Prozedur sind die Fohlen völlig erschöpft nebeneinander angebunden. Die Stuten stehen misstrauisch bei ihnen. Vorsichtig tritt Ainura heran und melkt sie. Das muss sie nun alle zwei Stunden tun. Etwa fünf Liter gibt jede Stute pro Tag, für die Fohlen reicht die Milch dennoch. Jede Nacht werden die jungen Pferde freigelassen – und am nächsten Morgen wieder eingefangen.

Eine Flasche fertiger Kumys eines Nachbarn ist Basis für den eigenen. Wie bei Sauerteig lassen Hefepilze die Milch gären. Den Kumys und die süßliche Stutenmilch mischt Bachyt in einem ausgeräucherten Birkenfass und hält sie mit einem Quirl in Bewegung. Einst nutzte man zur Produktion einen Ziegenbalg. Im Geschmack – säuerlich, rauchig, viel Kohlensäure – unterscheide sich Kumys aus dem Birkenfass aber nicht vom Original, versichert Bachyt. Zwei bis drei Stunden nach dem Melken ist aus der Milch Kumys geworden.


Das Fest beginnt. Der Beginn der Kumys-Saison ist für die Hirten Grund zum Feiern und ein Schaf zu schlachten. Da kommt natürlich die ganze Familie; die Muslime bitten um Allahs Segen, Frieden, Gesundheit, Glück und Zusammenhalt in der Familie.

Hier, fern der Zivilisation, scheint das noch wichtiger als anderswo. Doch für die Kirgisen ist die Zeit auf der Sommerweide, fernab von Handynetz und Stromversorgung, die schönste im Jahr. Im Oktober geht es zurück ins Dorf, wo man wieder dem Sommer entgegenfiebert – und dem nächsten Almauftrieb.

Lexikon

Kirgisistan ist zweieinhalbmal so groß wie Österreich und eines der ärmsten Länder der Welt. Landwirtschaft dominiert, es gibt etwas Bergbau. Zwei Drittel der ca. 5,5 Mio. Bewohner sind Kirgisen, ein Turkvolk, der Rest u. a. Usbeken, Russen, Uiguren, Tadschiken.

Interessante Trekkingtouren etwa durchs Tal des Chon-Kemin organisiert www.kasachstanreisen.de.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2009)

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