Wenn IS-Aussteiger berichten: "Sie sind Lügner"

Befreit von der Herrschaft des IS. Eine 19-jährige Syrerin zieht den Niqab aus, nachdem die Extremisten aus ihrem Dorf vertrieben worden sind.
Befreit von der Herrschaft des IS. Eine 19-jährige Syrerin zieht den Niqab aus, nachdem die Extremisten aus ihrem Dorf vertrieben worden sind.Reuters
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Sie wollten das – in ihren Augen – Richtige tun, doch dann sahen sie Folter, Mord und Vergewaltigung. In Videos erzählen IS-Aussteiger, wie das Leben in Syrien wirklich ist.

Ein Studio irgendwo im Süden der Türkei Ende 2015. Weiße Wände, eine Videokamera, zwei Männer. Hier werden Ahmet Yayla, Universitätsprofessor und ehemaliger Polizeichef von Şanliurfa, einer türkischen Stadt an der Grenze zu Syrien, sein Assistent Murat und Anne Speckhard, außerordentliche Professorin an der renommierten Georgetown University in den USA, Interviews durchführen. Speckhard ist nur via Skype zugeschaltet. Das Sicherheitsrisiko ist zu groß. Die beiden Professoren interviewen ehemalige IS-Anhänger. Menschen, die sich der Terrororganisation des sogenannten Islamischen Staats (IS) angeschlossen haben, bis das eine oder andere Erlebnis sie dazu brachte, sich abzuwenden.

Online-Gegenoffensive. Da gibt es Abu Walid, der erzählt, wie IS-Anhänger Unschuldige vergewaltigen und ermorden – ohne Konsequenzen. Da gibt es Ibn Ahmed, der erzählt, wie in einem Gefängnis 475 Frauen als Sexsklavinnen für ausländische Jihadisten gehalten werden. Da gibt es Ibn Omar, der als 13-Jähriger zum Selbstmordattentäter ausgebildet werden sollte. Oder einen belgischen Rückkehrer, dem Speckhard nicht glaubt, dass er dem IS abgeschworen hat. Sie alle sahen Mord, Folter, Vergewaltigung und vor allem Willkür. „Das ist kein Islamischer Staat. Sie sind Lügner“, sind Sätze, die immer wieder von ihnen zu hören sind. Was der IS in den Propagandavideos verbreite, stimme nicht. Sie müssen es wissen, sie waren dort.

Yayla und Speckhard sehen in ihren Erlebnissen eine Waffe im Kampf gegen den IS. Die Videos, die sie aufgenommen haben, werden nun von den beiden geschnitten und in den Social-Media-Kanälen der Terrororganisation verteilt. Sie sollen den Jugendlichen, die mit dem IS liebäugeln, zeigen, wie Realität und Propaganda voneinander abweichen. Dafür werden die Videos so präpariert, dass sie am Anfang wie IS-Propaganda-Filme aussehen, erst danach erscheinen die Rückkehrervideos auf dem Schirm.

Ob die Strategie funktionieren wird, hängt von der Anzahl der Videos ab, die verbreitet werden können. Die ersten Interviews haben die beiden in einem Buch (siehe Kasten) zusammengefasst. Weitere Interviews wurden in der Zwischenzeit gemacht. Ihre Arbeit ist nicht ungefährlich, Yayla musste inzwischen in die USA fliehen, weil der IS auf ihn aufmerksam geworden war. Trotzdem suchen beide weiter nach Rückkehrern. Deren Botschaften erklären keine geopolitischen Probleme, aber sie werfen ein persönliches Licht auf einen dunklen Fleck Zeitgeschichte. Sie zeigen, wie eine der größten Terrororganisationen der Welt wirklich ist.

Buch

Die ersten zwölf Interviews sind am 1. Juli in einem Buch veröffentlicht worden. „Isis Defectors: Inside Stories of the Terrorist Caliphate“, Englisch, 372 Seiten, Verlag: Advances Press

www.icsve.org

Massenvergewaltigung im Gefängnis

Ibn Ahmed bewachte ein Gefängnis mit 475 Frauen. Alle wurden vergewaltigt. Egal, ob Jesidin oder Sunnitin.

Ibn Ahmed war ein Wassertankfahrer. Als der Krieg begann, verlor er seinen Tankwagen, war arbeitslos und unter finanziellem Druck. Dann eroberte der IS seine Stadt Deir ez-Zor, die Region ist für ihr Erdöl bekannt. Rauchen wurde verboten, die Bewohner wurden angehalten, in die Moschee zu gehen. „Am Anfang war alles gut, wirklich gut. Ich glaube, es gab keine Kriminalität zu der Zeit“, erzählt er. Da er noch immer arbeitslos war, schloss er sich dem IS an. „Es wird kein Unrecht unter ihnen geben, und sie zahlen dich gut“, sagte ihm ein Geistlicher.

Aber schnell war nichts mehr gut. Er wurde in der Conoco-Ölraffinerie als Wächter eingesetzt. Zu jener Zeit (im August 2014) eroberte der IS das Jesidengebiet im Norden des Irak. Jene Religion, die der IS als angebliche Teufelsanbeter verfolgt. Die Männer wurden getötet und die Frauen gefangen genommen. Die ersten neun Frauen, die er sah, wurden unter den ausländischen Jihadisten verteilt. „Ein Geschenk von Abu Bakr al-Baghdadi (dem Anführer des IS, Anm.)“, sagt er.

Die Frauen, die verteilt wurden, waren 14 Jahre und älter. Sie weinten, und eine schrie: „Das ist nicht der Islam.“ Doch es sollte noch schlimmer kommen. Die Conoco-Raffinerie hat in Abu Ahmeds Erinnerung 700 Räume in der Größe von etwa 18 Quadratmetern. Und ein Gefängnis. „475 Frauen waren dort gefangen. Jesidinnen, aber auch die Ehefrauen von irakischen Soldaten oder Syrerinnen“, erzählt er. Es waren die Frauen ihrer Feinde, unabhängig ihrer Staatsangehörigkeit und Religion – damit waren auch Sunnitinnen unter ihnen. Sie sollten bald die Bewohner der Raffinerie kennenlernen. Rund 450 Jihadisten aus dem Ausland lebten in der Raffinerie. Jeder hatte ein Zimmer mit TV, manche rauchten Wasserpfeife, obwohl Rauchen beim IS strengstens verboten ist. Dann begannen die Massenvergewaltigungen. Jeder ausländische Jihadist durfte sich eine Frau aussuchen und in sein Zimmer mitnehmen.

Manche der Frauen wurden von den Jihadisten behalten und mitgenommen, wenn die Kämpfer versetzt wurden, andere wieder zurück ins Gefängnis gebracht. Als die Frauen verteilt waren, kamen die nächsten.

Ibn Ahmed beschloss zu fliehen, als ein sudanesischer Jihadist ein 15-jähriges Mädchen so brutal vergewaltigte, dass sie an inneren Blutungen starb. Der Mann wurde zwar festgenommen, danach aber ohne Konsequenzen freigelassen.

„Glaubt ihnen nicht.“ Wenig später floh Ibn Ahmed in die Türkei. Dort arbeitet er auf einer Farm, als Gemüseernter. „Es ist gerade genug, um zu überleben“, sagt er. Aber er ist froh, die Terrororganisation verlassen zu haben. „Je weiter weg vom IS, desto besser“, sagt er. Die ausländischen Jihadisten, erzählt er, kämen, weil sie glaubten, der IS sei der „wahre islamische Staat“. Aber dann würden sie nur lernen: „Du tötest, wenn wir es dir sagen.“ Was er Menschen sagen würde, die überlegen, in den Jihad zu ziehen? „Glaubt dem IS nicht. Ihr kommt an, werdet ins Training geschickt, und alles, was ihr dann seht, ist Vergewaltigung und Mord. Ihr werdet sie Menschen foltern und auspeitschen sehen. Und ihr könnt nichts tun. Wenn ihr fliehen wollt, dann werdet ihr getötet.“

Brutale Helfer: Europäer als die "wahren Gläubigen"

Die Europäerin Laila folgte ihrem Mann ins Kalifat. Jihadisten aus dem Ausland haben dort Sonderstatus - und sind besonders vom IS überzeugt.

Laila folgte ihrem Ehemann. Die junge Frau zog mit ihm von Europa aus in den IS – und kam allein und schwanger zurück. Lailas Eltern sind palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon, die in den 1980ern nach Europa kamen. Ihre Heimat wird aus Sicherheitsgründen in dem Interview nicht angegeben. Als Laila ihren späteren Mann, Mohammed, kennenlernte, wusste niemand in der Familie, dass er plante, nach Syrien zu gehen. „Er glaubte, es sei gut für sein Leben nach dem Tod. Sein Leben war ihm egal. Er war bereit zu sterben“, sagt sie heute.

Er ging in radikale Moscheen, seinen Weg als „Märtyrer“ fand er aber über das Internet. Anfangs versuchte Laila noch, ihn aufzuhalten, rief die Polizei, doch irgendwann ging er. Und sie folgte ihm. „Ich war gegen all das. Aber es war hart, ihn gehen zu lassen“, rechtfertigt sie sich. Über die Türkei reisten sie nach Syrien ein.

Frauen ohne Rechte. Was Mohammeds Rolle im IS war? Laila sagt, sie wisse es nicht genau. Während er im Kampf- und Sharia-Training war, lebte sie mit anderen Frauen zusammen. „Ich hatte nichts mit ihnen gemeinsam. [...] Sie waren wie mein Ehemann. Sie redeten viel über muslimische Kleidung, was Frauen anziehen sollten und dass sie alle Regeln befolgen müssen.“

Frauen haben unter dem IS wenig Rechte. Sie dürfen nur mit dem Niqab (Vollverschleierung bis auf einen Augenschlitz) und mit einem männlichen Begleiter (Familie oder ein verheirateter Mann) auf die Straße gehen. Ist keiner da, müssen sie drinnen warten. Selbst wenn sie dabei verhungern sollten, wird ein Ex-Anhänger in einem späteren Interview erzählen. Ein anderer erzählt, dass er einmal eine Syrerin sah, die ihren Kopf nur mit einem Kopftuch bedeckte, als sie ihrem Mann (einem Tankstellenbesitzer) Wasser brachte. Just in dem Moment blieb die IS-Sittenpolizei stehen. Sie ließen die Frau sofort auspeitschen. Bitte nicht, sie sei schwanger, bat sie. Sie schlugen sie 25 Mal. Als die IS-Anhänger sie zwangen aufzustehen, rann bereits Blut zwischen ihren Beinen hervor.

Laila selbst berichtet von keinen Attacken. Komplett verhüllt konnte sie allein einkaufen gehen. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, wie ausländische Jihadisten unterschiedlich zum Rest der IS-Anhänger behandelt werden. Während viele Syrer, die in eroberten Gebieten leben, aus Hunger dem IS beitreten, sind die ausländischen Kämpfer aus freiwilligen Stücken hier. In den Interviews werden sie oft als brutal und besonders überzeugt beschrieben. Sie sind „die wahren Gläubigen“, enthusiastisch für den Jihad und das Kalifat, sagt ein Interviewpartner.

Gleichzeitig haben sie einen Sonderstatus, sie bekommen Sexsklaven und Privilegien wie Häuser, gutes Essen, während alle anderen hungern müssen. Ausländische Frauen werden normalerweise nicht vergewaltigt, werden aber gezwungen, wieder zu heiraten, wenn ihr Mann stirbt. Wer fliehen will, wird geköpft.

Lailas Mann wollte nicht fliehen, er starb im Jihad. Mit der Hilfe ihres Vaters konnte sie, bereits schwanger, aus dem Land geschmuggelt werden. Zurück in Europa ermittelte der Staat gegen sie, ließ aber alle Vorwürfe fallen.

Sie nennen sie "Knöpfe"

13-Jährige wie Ibn Omar werden zu Selbstmordattentätern ausgebildet. Sie sollen mit Vollgas an einen Checkpoint heranfahren und sich dann in die Luft jagen.

„Wenn du in das Auto steigst und den Knopf drückst, dann kommst du ins Paradies.“ Mit Sätzen wie diesen werden die Kinder und Jugendlichen im Camp in Tabqa, 40 Kilometer westlich der IS-Hochburg Raqqa, auf ihre Mission vorbereitet, erzählt Ibn Omar.

Er war einer von ihnen. Gerade einmal 13 Jahre alt, schloss sich der Syrer dem sogenannten Islamischen Staat an, und sollte zum Selbstmordattentäter ausgebildet werden. „Knöpfe“ werden diese Kinder beim IS genannt. Da sie mit einem Knopfdruck die Bombe zünden. Ihr Ziel waren Checkpoints und militärische Außenposten im syrischen Kobanê. Für sein Interview hat er sein Gesicht vermummt und eine Sonnenbrille aufgesetzt – zu groß ist seine Angst. Mit 15 Jahren ist er schon ein gejagter Mann.

Im Camp wurden den Kindern militärische Taktiken und das Scharia-Recht beigebracht. 500 Kinder und Jugendliche waren mit Ibn Omar dort zusammen. Die jüngsten waren gerade einmal zehn Jahre alt. Manchen wurden Tabletten vor ihrem Angriff gegeben. Vermutlich Beruhigungsmedikamente. Während die Älteren wussten, was auf sie zukam, wurde den Jüngeren nur erklärt, das Auto anzuhalten und die Handbremse zu ziehen. „Dann explodiert es.“

Der Wunsch nach einem Auto war es auch, der Ibn Omar ironischerweise zum IS brachte. „Sie sagen, sie würden mir ein Auto und eine Waffe geben und was immer ich auch will.“ Seine Familie war arm. Ein Auto ein unerreichbarer Traum.

„Am Anfang behandelten sie uns gut und später schlecht“, sagt Ibn Omar. Das Camp erinnerte ihn an eine große Schule. Eine grausame Schule. Regelmäßig fanden Köpfungen statt. Die älteren Jugendlichen sägten mit einem Messer den Kopf von Gefangenen im Camp ab, die mit nach hinten gebundenen Händen am Boden lagen. „Am Anfang dachte ich, es seien Ungläubige, die umgebracht werden“, sagt der Jugendliche. Ehebrecher, Magier, Verräter. Aber seine Meinung sollte sich ändern. „Sie bringen Unschuldige um. Sie sagen, sie sind der islamische Staat, aber sie sind es nicht. Sie erlauben und verbieten Dinge, wie es ihnen passt“, erzählt er.

Ibn Omar sah, wie die IS-Anhänger Menschen auspeitschten – nur weil sie rauchten. Oder wie kleinen Kindern die Hände abgehackt wurden, weil sie Essen stahlen. Denn zu essen gab es nicht viel. Joghurt und Datteln zum Frühstück und dann etwas Huhn, Reis und Lamm zum Abendessen. Kein Mittagessen. Sie mussten hungern, „damit wir im Kampf den Hunger aushalten“.

Unschuldige Opfer. Willkür regierte im Camp. „Wenn sie jemanden nicht mochten, dann wurde er umgebracht oder ausgepeitscht.“ Mit 13 sah er, wie Menschen in kleine Käfige gesperrt und so lang ins Wasser getaucht wurden, bis sie fast ertranken. Andere wurden in ein Auto gesteckt und dann mit einer Granate in die Luft gejagt. „Die älteren Rekruten hatten Smartphones. Wir sahen geköpfte Menschen, alte und junge. Alle waren unschuldig und starben. Und es gab keine Konsequenzen für die Schuldigen, deswegen lief ich weg“, erzählt er. Seither lebt er versteckt in der Türkei: „Ich habe alles verloren. Mein Land, meine Heimat. Alle sind tot.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2016)

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