Ungarn: Opfer des Chemieunfalls im Stich gelassen?

Ungarn Opfer Chemieunfalls Stich
Ungarn Opfer Chemieunfalls Stich(c) APA/ANDREAS TR�SCHER (ANDREAS TR�SCHER)
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Umgerechnet 131.000 Euro sind bisher vom Staat laut Medienberichten für die Opfer der Katastrophe lockergemacht worden. Die Leidtragenden im Westen Ungarns fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen.

Devecser/Budapest. Im westungarischen Ort Devecser ist vielen Einwohnern die Geduld gerissen. Damit nicht genug, dass ihnen die Rotschlammflut von Anfang Oktober ihr Hab und Gut fortgeschwemmt hat, müssen sie jetzt auch auf finanzielle Hilfe warten.

Läppische 36 Millionen Forint – umgerechnet 131.000 Euro – sind bisher vom Staat laut Medienberichten für die Leidtragenden der Katastrophe lockergemacht worden. Für die Betroffenen vor allem in Devecser ist das viel zu wenig. Sie wissen allzu gut, dass sich dank in- und ausländischer Spenden im Nationalen Fonds für Schadenshilfe eine Summe in Höhe von rund 1,3 Milliarden Forint angehäuft hat. Aus diesem Grund sind viele entschlossen, auf die Barrikaden zu steigen.

Géza Csenki, Wortführer der Unzufriedenen, stellte der Regierung vergangene Woche ein Ultimatum. Sollte Premier Viktor Orbán nicht innerhalb einer Woche ins Katastrophengebiet fahren und mit den Bürgern verhandeln, werde man Durchzugsstraßen sperren. Csenki fordert sofortigen und vollen Schadensersatz sowie Aufklärung über die gesundheitlichen Risken des Verbleibs im Katastrophengebiet. Unter Fachleuten scheiden sich immer noch die Geister, wie giftig der Rotschlamm wirklich ist. Er fällt bei der Aluminiumerzeugung an, ist stark basisch und enthält unter anderem große Mengen Quecksilber, Arsen und Chrom.

Können Felder wieder bestellt werden?

Am 4. Oktober hatte sich der größte Chemieunfall in der Geschichte Ungarns ereignet. Nachdem in der Nähe der westungarischen Stadt Ajka ein riesiges Absetzbecken der Aluminiumfabrik „MAL“ geborsten war, ergossen sich mehr als eine Million Kubikmeter toxischen Rotschlamms über die Dörfer Kolontár, Devecser und Somlóvásárhely.

Die Flut forderte zehn Menschenleben, über 300 Personen wurden verletzt, mehr als 260 Häuser sind von der Schlammflut unbewohnbar gemacht worden. In den Wochen nach der Katastrophe waren rund 4000 Hilfskräfte und hunderte Lkw Tag und Nacht im Einsatz, um den Dreck aus den überfluteten Ortschaften zu entfernen. Inzwischen sind die drei betroffenen Orte schlammfrei.

Obwohl das Gros der Anwohner auch weiterhin im Katastrophengebiet leben will, blicken viele heute in eine unsichere Zukunft. Sie wissen weder, wann die von der Regierung versprochenen neuen Häuser errichtet werden, noch, ob die vergifteten landwirtschaftlichen Flächen je wieder bewirtschaftet werden können.

Neben den Bauern klagen aber auch die örtlichen Roma, von denen sich viele auf das Sammeln von verwertbarem Tand bei Entrümpelungen in Österreich und Deutschland spezialisiert haben. Sie fürchten, dass sie das aus dem Nachbarland importierte Gerümpel nicht mehr an den Mann bringen. Die meisten Geschäftsleute der Region teilen übrigens diese Ängste: Sie jammern, dass seit der Flut die Geschäfte schlecht gehen.

Die Regierung ihrerseits will zeigen, dass sie Herr der Lage ist. Mit György Bakondi hat Premier Orbán sogar eigens einen Regierungsbeauftragten ernannt, um die Folgen der Katastrophe so rasch wie möglich zu bewältigen. In einem Interview mit dem Radiosender InfoRádió, erklärte Bakondi unlängst, dass für die obdachlos gewordenen Betroffenen mehrere Möglichkeiten offenstünden: Sie könnten in Wohnparks ziehen oder auch freie Grundstücke in Kolontár oder Devecser in Besitz nehmen. Außerdem hätten sie die Möglichkeit, eine der rund 800 Wohnungen zu beziehen, die vom Staat zur Verfügung gestellt wurden.

Aluminiumfirma beteuert weiter Unschuld

Unterdessen hat die Regierung den Urheber der Schlammkatastrophe eindeutig identifiziert: die Aluminiumfabrik MAL, aus deren lecken Becken die giftige Brühe ausgeflossen ist. Schon wenige Wochen nach der Katastrophe wurde MAL unter Kuratel des Staates gestellt. Die bisherige MAL-Leitung beteuert immer noch ihre Unschuld. Immerhin bot das Aluminiumunternehmen an, 1,5 Milliarden Forint an Schadensersatz zu zahlen.

Kürzlich wurde auch mit dem Bau eines neuen, rund 1,5 Kilometer langen Schutzwalls begonnen, der Kolontár, Devecser und Somlóvásárhely vor einer neuen Schlammflut schützen soll. Eine andere Mauer wurde derweil im Park des Esterházy-Schlosses in Devecser errichtet: eine Gedenkwand zur Erinnerung an die Katastrophe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2010)

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