Was ist passiert? Die wichtigsten Fakten zum Unfall in Fukushima

This October 2008 photo shows the Fukushima No. 1  power plant of Tokyo Electric Power Co. at Okumama
This October 2008 photo shows the Fukushima No. 1 power plant of Tokyo Electric Power Co. at OkumamaAP ()
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Zahlreiche Katastrophenmeldungen geistern seit 12. März durch die Medien. Aber was ist wirklich im japanischen Kraftwerk Fukushima geschehen? DiePresse.com hat die verfügbaren Fakten gesammelt.

Es ist schwer, verlässliche Informationen aus Japan zu erhalten. Teilweise widersprechen sich die Meldungen. Die Regierung hat manche Aussagen über das Ausmaß des Reaktorunfalls wieder zurückgenommen. DiePresse.com hat die wichtigsten Fakten zusammengestellt anhand der Informationen, die in der Wissenschafts-Gemeinde und von der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA als gesichert gelten. Natürlich können wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Daten werden aktualisiert, sobald neue Informationen verfügbar sind. Die Kraftwerke in Fukushima werden als Fukushima Daichi und Fukushima Daini bezeichnet. Wir verwenden die leichter zu unterscheidende Bezeichnung Fukushima Eins und Fukushima Zwei.

Wie kam es zum Unfall in den Reaktoren von Fukushima Eins?
Nach dem Erdbeben haben sich die Reaktoren automatisch abgeschaltet. Steuerstäbe wurde eingefahren, welche die Kettenreaktion sofort stoppten. Dieselaggregate kühlten alle drei aktiven Reaktoren eine Stunde lang zuverlässig. Dann traf die Tsunami-Welle ein. Das Kraftwerk hält Wellen von bis zu sieben Meter aus. Die Zehn-Meter-Welle war zu viel, die Stromaggregate wurden zerstört. Daraufhin setzten Batterien ein, die nur wenige Stunden hielten. Dadurch sank der Wasserstand. Die Reaktoren 4 bis 6 waren in der jährlichen Revision und somit abgeschaltet.

Wenn das Kraftwerk abgeschaltet wurde, warum muss man es noch kühlen?
Selbst wenn die Kettenreaktion unterbrochen wird, gibt es eine sogenannte Nachzerfallswärme. Sie beträgt nach Abschalten des Reaktors sieben Prozent der maximalen Wärmeleistung und entsteht durch radioaktiven Zerfall. Diese Nachzerfallswärme muss "weggekühlt werden", bevor der Reaktor als sicher heruntergefahren gilt ("cold shutdown"). Die Reaktoren von Fukushima Zwei, dem bisher unauffälligen Schwesternkraftwerk, haben diesen Status bereits erreicht.

Welche Gefahr geht von Reaktor 2 des AKW Fukushima Eins aus?
Die Reaktorkerne 1 und 3 galten bis Mittwoch als gekühlt. Bei Reaktorblock 2 hieß es, seine Brennstäbe würden trocken sein. Das an sich ist noch nicht das Problem. Der Reaktor wurde drei Tage lang erfolgreich gekühlt. Die Nachzerfallswärme dürfte dort nur noch 0,4 Prozent der Maximalleistung des Reaktors betragen. Allerdings leistet Reaktor 2 mehr als Reaktor 1 (784 statt 460 Megawatt Generatorleistung). Die thermische Leistung ist in etwa das dreifache der Generatorleistung. Bei 2352 MW würden 0,4 Prozent immer noch 9,4 MW betragen. Gesicherte Informationen über eine mögliche Kernschmelze gibt es aber noch nicht.

Sind die Kerne der drei Reaktoren jetzt geschmolzen oder nicht?
Die unbefriedigende Antwort: Man weiß es nicht. Bevor man die Schutzhülle nicht öffnet und nachsieht, kann man das nicht mit Sicherheit beantworten. Die japanischen Behörden gehen derzeit vom schlimmsten Fall, also einer Kernschmelze, aus.

Warum ist es so schwer, den Kern zu kühlen?
Im Reaktorkern ist es nicht nur sehr heiß, es herrscht auch ein enormer Druck von 80 Bar. Das Wasser muss erst mit diesem Druck eingespritzt werden. Leider wirkt Wasser auch als Beschleuniger für die Spaltungsprozesse. Daher wird Borsäure zugefügt, um die Neutronen zu stoppen. Durch die Hitze im Kern muss immer wieder Dampf abgelassen werden. Das geschieht planmäßig und dabei wird ein geringes Maß an Radioaktivität freigesetzt.

Was ist in den Reaktoren explodiert?
Durch das planmäßige Ablassen des Dampfes, die große Hitze und den Druck kam es zur Freisetzung von Wasserstoff aus dem Kühlwasser. Dieser reagierte mit Sauerstoff, der sich zwischen dem Reaktor-Containment und der Gebäude-Außenhaut befand. Dadurch entstand eine Knallgasexplosion. Zu Reaktor 2 gibt es noch keine zuverlässigen Informationen (Stand 10:30 MEZ). Es heißt, der Torus rund um den Kern, also der ringförmige Behälter, in dem sich sehr viel Wasser befindet (siehe Grafik unten) und in den Dampf abgelassen wird, soll geborsten sein. Die Kern-Hülle soll nicht beschädigt worden sein.

Aber das Gebäude ist doch komplett kaputt?
Bei den Reaktorblöcken 1 und 3 befindet sich über dem Containment eine Leichtbau-Industriehalle. Informell reden Kernkraft-Experten von einem "besseren Wetterschutz". Diese Abdeckung machte nur das obere Drittel der Reaktorblöcke aus. Das ist auch sehr gut auf dem Diagramm des Reaktors erkennbar.

Diagramm eines Siedewasserreaktors

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Wieviel Energie wurde in Fukushima Eins erzeugt?
Reaktor 1 ist der schwächste Block mit einer Generatorleistung von 460 Megawatt. Die Blöcke 2 bis 5 leisten jeweils 784 Megawatt. Reaktor 6 kann 1100 Megawatt erzeugen.

Wie heiß ist es in so einem Reaktor? Können die Brennstäbe schon schmelzen?
Im normalen Betrieb herrscht eine Temperatur von 286 Grad Celsius. Die Brennstäbe schmelzen ab 2850 Grad Celsius. Wie heiß es jetzt in den Fukushima-Reaktoren ist, weiß man noch nicht.

Können die Reaktoren noch weiterverwendet werden?
Nein. Durch die Einleitung von Meerwasser und Borsäure sind die Reaktorblöcke 1 bis 3 von Fukushima Eins komplett unbrauchbar geworden.

Wenn die Reaktoren 4 bis 6 abgeschaltet wurden, warum strahlt Reaktor 4?
In Reaktorblock 4 gab es ein Feuer in einem Lagerbecken für verbrauchte Brennstäbe ("spent fuel storage"), auch Abklingbecken genannt. Die Feuerwehr konnte es löschen, dabei trat aber Radioaktivität aus und gelangte in die Atmosphäre. Die IAEA prüft derzeit die Ursachen und Konsequenzen des Feuers. Nach einem zweiten Feuer wird versucht, Wasser in das Lagerbecken zu pumpen. Die steigende Radioaktivität von Reaktor 3 erschwert die Arbeiten aber.

Ist die Lage in Reaktor 4 gefährlicher als in den Reaktoren 1 bis 3?
Das Lagerbecken ist weit nicht so gut gesichert wie der Druckbehälter eines Reaktors. Dadurch werden derzeit alle Anstrengungen unternommen, um es wieder mit Wasser zu befüllen. Unklar ist, welche Gefahr von den Brennstäben ausgeht, und wie weit sie schon heruntergekühlt waren, bevor die Probleme in Reaktor 4 begonnen haben. Mittlerweile gibt es auch Kühlprobleme mit dem Lagerbecken in Reaktor 3.

Wie warm ist es in so einem Abklingbecken?
Nach Angaben der IAEA wird das Wasser in diesen Becken im Normalfall auf unter 25 Grad Celsius gehalten. Die letzte verfügbare Messung aus Reaktor 4 vom 15. März um 11.00 MEZ betrug allerdings 84 Grad. In den Reaktoren 5 und 6 ist sie auf 63 beziehungsweise 60 Grad gestiegen.

Wieviel Radioaktivität wurde wirklich freigesetzt?
Messungen der IAEA am Zaun rund um das Kraftwerk Fukushima Eins am Wochenende betrugen 20 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h). Wenig später war dieser Wert bereits auf 10 µSv/h gesunken. Nach Angaben der IAEA gab es um 1.00 Uhr MEZ einen Spitzenwert von 11.500 µSv/h. Sechs Stunden später war dieser Wert auf 600 µSv/h gesunken. 150 Personen aus dem Umkreis des Kraftwerks werden derzeit auf eine mögliche Verstrahlung überprüft. Bei 23 musste eine Dekontaminierung eingeleitet werden.

Radioaktivität beim Kraftwerk

Die Werte wurden jeweils am Zaun der Anlage gemessen. Als Einheit für die Dosis werden Millisievert (mSv/h) genutzt. Ein mSv/h sind 1000 µSv/h.
DatumUhrzeit (MEZ)mSv/h 15. März 00:31 8,22
01:00 11,90
07:00 0,60
08:30 0,49
15:35 6,31 16. März 03:00 3,39
06:30 1,94
08:20 1,47 17. März 03:10 0,65

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// (Quelle: IAEA, JAIF)

Was ist ein Sievert überhaupt?
Sievert ist eine Einheit für die Strahlendosis. Sie wird mit Energie pro Masse (Joule pro Kilogramm) berechnet. Sie ist der aktuell genutzte Messwert, um die biologischen Effekte von radioaktiver Strahlung auf den Menschen einschätzen zu können. 1 Sv entspricht 100 Rem. Rem war die bis 1978 gängige Einheit.

Welche Strahlendosis ist schädlich?
Bei einem Bruströntgen wird man 40 µSv ausgesetzt, bei einer Mammografie 300 µSv. Bis 0,15 Sv pro Tag (also 150.000 µSv) besteht nach herrschender Meinung keine Gefahr. Darüber kann es zu Schwindelgefühl und Appetitverlust kommen. Knochenmark und Lymphknoten werden beschädigt. Ab 6 Sv pro Tag wird das zentrale Nervensystembeschädigt, man muss mit dem Tod rechnen. Das von der IAEA gemessene Maximum von 11.900 µSv/h wäre umgerechnet fast 0,3 Sv pro Tag. Das würde bereits in die Kategorie "gefährlich" fallen. Allerdings war das nur eine Momentaufnahme und der Wert ist wieder gesunken. Raucher sind stärker gefährdet als Kernkraftwerk-Mitarbeiter. Während im Umfeld eines AKW weniger als 10 µSv pro Jahr gemessen werden, sind Raucher, die 1,5 Packungen pro Tag verbrauchen, 13.000 µSv pro Jahr ausgesetzt.

Woher erhält man gesicherte Informationen über Fukushima?
Es ist schwer, sich im Wust der Meldungen zurecht zu finden. Japanische Meldungen können bei der Übersetzung ins Englische und von dort ins Deutsche Mängel aufweisen, am Wochenende wurden auch einmal Skalen vertauscht, als es um das Ausmaß der Radioaktivität ging. Als gute Informationsquelle im Internet dient World Nuclear News. Auch über die Websites des Japan Atomic Industrial Forum und der japanischen Nuclear and Industrial Safety Agency (NISA) erhält man regelmäßig Updates. Die IAEA informiert inzwischen über ihre Website und auf Facebook. Das Wiener Atominstitut hat einer E-Mail-Adresse für alle Fragen aus Österreich eingerichtet. Unter info@ati.ac.at werden sich Mitarbeiter des Instituts um eingehende Anfragen der Bevölkerung kümmern.

Kann so ein Unfall auch in Europa passieren?
Das gilt bei Experten als unwahrscheinlich. Es gibt zwar in Europa ein Kernkraftwerk, das vom selben Reaktortyp ist wie Fukushima. Es handelt sich um das AKW Mühleberg in der Schweiz. Allerdings unterscheidet sich dessen Konstruktion in vielen Bereichen von den Reaktoren in Fukushima. So ist die Hülle um das Containment nicht nur eine Leichtbau-Halle, sondern ein massiver Betonblock. Und die Notstrom-Aggregate sind ebenfalls besser geschützt. Über dem Kraftwerk befindet sich ein Stausee. Bei der Planung wurde mit einberechnet, dass das Kraftwerk in Mühleberg selbst einem Bruch des Staudamms und den anschließenden Wassermassen standhalten kann. Das Kraftwerk ist seit 1971 im Betrieb, wurde regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht und kann auf eine tadellose Bilanz zurückblicken. Es soll in den nächsten drei bis fünf Jahren komplett abgeschaltet werden.

Die Situation auf einen Blick

Reaktor 1: Kühlung ausgefallen. Dampf wurde abgelassen, das Gebäude durch eine Knallgas-Explosion beschädigt. Derzeit wird mit Meerwasser gekühlt.

Reaktor 2: Kühlung ausgefallen. Die Brennstäbe lagen mehrere Stunden lang frei. Dampf wurde nach Neuaufnahme der Kühlung abgelassen. Vermutlich wurde dabei ein Teil des Containments beschädigt.

Reaktor 3: Kühlung ausgefallen. Dampf wurde abgelassen, das Gebäude durch eine Knallgas-Explosion beschädigt. Meerwasser wird eingepumpt, ein Schaden im Containment befürchtet. Mittlerweile eritzt sich wie in Reaktor 4 das Abklingbecken.

Reaktor 4: War abgeschaltet, die Brennstäbe in einem Lagerbecken. Dieses dürfte ausgeronnen sein, die Temperatur steigt. Zwei Brände brachen aus, wurden aber wieder gelöscht. Die Kühlung des Beckens ist derzeit nicht aufrecht.

Reaktor 5: War ebenfalls abgeschaltet. Der Wasserstand des Lagerbeckens ist um 40 Zentimeter gesunken. Eine Pumpe von Reaktor 6 soll zusätzlich Wasser hineinbefördern.

Reaktor 6: War abgeschaltet, bisher keine Schäden festgestellt. Temperatur im Lagerbecken steigt langsam.

(db)

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